Montag, 1. August 1983
Joe Hyams: Humphrey Bogart and Lauren Bacall. Vorwort
Paul Werner
Vorwort
Fünf Tage lang, vom 16. bis zum 20. März des Jahres 1948, durchlebt der amerikanische Filmschauspieler Humphrey Bogart – er steckt mitten in den Dreharbeiten zu Key Largo von John Huston – einen komplizierten Kriminalfall, der mit dem Mord an einem Freund beginnt und sich rasch zu einer Bedrohung der gesamten Filmwelt Hollywoods auswächst: Bei der alljährlichen »Oscar«-Verleihung soll das ganze ehrenwerte Auditorium in die Luft fliegen. Wider Willen wird Bogart in den mysteriösen Fall verwickelt, aber er wäre nicht der, für den man ihn hält, wenn er ihn nicht bravourös und in Philip-Marlowe-Manier lösen würde – wozu hatte er schließlich drei Jahre zuvor The Big Sleep oder 1941 The Maltese Falcon gedreht?
Der Mordfall und der sich daraus entwickelnde Thriller fanden jedoch nicht wirklich statt; sie bilden das Handlungsgerüst eines Romans, den mir vor ein, zwei Jahren ein amerikanischer Freund zuschickte und den ich mit großem Vergnügen las. Die beiden Autoren des Buches (John Stanley und Kenn Davis, Bogart '48, New York 1980) beschreiben die fünf Tage im Leben des H. B. minutiös unter sorgfältiger Rekonstruktion von Schauplätzen und Gegebenheiten, vermischen dann aber behutsam Fakten und Fiktion und lassen den Schauspieler wie den Filmhelden agieren. Am Rande tauchen reihenweise damalige Filmgrößen als authentische Figuren auf, oft ironisch überzeichnet. Der sich an Chandler und Hammett anlehnende Roman auch Chandler tritt auf – benutzt einen im Grunde simplen Trick: Er greift den längst institutionalisierten Mythos um Bogart auf und verlängert diesen Film-Mythos in Bogarts Privatleben hinein, bildet die Rolle des Kinodetektivs noch einmal als genuine Eigenschaft des Darstellers ab. Nichts anderes aber macht der Zuschauer der Bogart-Filme, spätestens dann, wenn er zum Bogart-Fan wird.
Was aber macht die Faszination dieses knapp [über] 1,70 Meter großen, schlanken Mannes mit dem tief in das strapazierte Gesicht gezogenen Hut und dem Trenchcoat – den Gürtel stets unordentlich verknotet und den Kragen hochgeschlagen – eigentlich aus? Eine Faszination immerhin, die Menschen in aller Welt und der unterschiedlichsten Altersstufen nicht nur seine Filme immer wieder anschauen läßt, sondern sie auch dazu bringt, sich sein Bild lebensgroß auf ihre Türen zu pinnen und ihn kurz und vertraut »Bogie« zu nennen. Und warum nimmt, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, die Begeisterung für ihn und seine Filme eher zu?
In Bogart kommen das Aussehen des Darstellers und der Charakter der Filmrollen zu einer seltenen Kongruenz; und dennoch verbleibt den Zuschauern genug Raum, ihre eigenen Träume und Ängste in die Figur zu projizieren. Dies spürten zuerst die Studenten der amerikanischen Colleges und Universitäten, von denen in den frühen 60er Jahren, nur wenige Jahre nach Bogies Tod, der Bogart-Kult ausging – bereits 1960 begann das Brattle-Kino in Cambridge, regelmäßig zur Examenszeit eine Restrospektive von Bogart-Filmen vorzuführen, die Jahr für Jahr größere Besucherscharen anlockte. Die Studenten sahen in Bogart eine unsentimentale, durch und durch amerikanische Figur, deren pessimistische Lebenseinstellung, deren »intellektuelle« Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten, deren aber auch spürbare Verletzlichkeit, die sich hinter der Maske des harten Äußeren nur unvollkommen verbarg, ihr persönliches Wunschbild verkörperte. Die kathartische Lösung ihrer eigenen Ängste fanden die Studenten – und nicht nur diese – dagegen in dem mühsamen, oft vergeblichen Kampf des Bogartschen Helden gegen eine völlig korrupte Umwelt. In einer zunehmend undurchschaubaren Gesellschaft lebend – mit großen sozialen und politischen Krisen –, wurde einer jungen Generation ein mittelalter Mann zum unerreichbaren Vorbild, der in einer nicht minder bedrohlichen Welt mit seinem unbeirrbaren (Berufs-)Ethos sämtliche Gefahren zynisch und »cool« durchstand – wenn es sein mußte, bis in den unausweichlichen, alle Konflikte endgültig bereinigenden Tod. Wie kaum ein anderer Star (der diese Bezeichnung zu Recht trägt, und das sind weniger, als man glaubt) wurde Bogart der Kristallisationskern eines Kinomythos – im Unterschied etwa zu anderen großen Gangsterdarstellern wie James Cagney oder Edward G. Robinson.
Nun gehört zu Kinomythen, oder genauer: zu deren Trägern, daß viel über sie geschrieben wird, vor allem, wenn sie dem per se mythischen Ort Hollywood entstammen, und noch mehr, wenn die Personen bereits tot sind. Tote können ihre Legenden nicht mehr korrigieren, und wenn sie gestorben sind, bevor ihre Karriere stagnierte, fallen ihre Anhänger in eine egoistische Trauer, die den schmerzlichen Verlust ihres Idols beklagt. Schauspieler wie Bogart, James Dean, Schauspielerinnen wie Marilyn Monroe, Regisseure wie Hitchcock und auch Sänger wie Elvis Presley oder Jim Morrison werden dann rasch ideale Objekte mythischer Verehrung. Über jede solcher Personen gibt es zahllose »Biographien«, die – je nach Ansatz ihrer Verfasser – sich zum Ziel setzen, den jeweiligen Mythos entweder zu vertiefen oder zu »entlarven« und die »Wahrheit« zu erzählen, wobei die zweite Möglichkeit selten etwas anderes bedeutet, als den bekannten Mythos durch eine neue Version zu ersetzen. Denn einen Mythos zu entlarven, wirklich zu zerstören, bedeutete nichts anderes, als den Lesern den Stoff, den sie lieben, zu entziehen ...
So verwundert es kaum, daß, seit der 1965 einsetzenden Publikationswelle – in jenem Jahr kamen in den USA vier Bogart-Bände gleichzeitig auf den Markt –, über ihn mehr als ein Dutzend Bücher alleine im englischen Sprachraum veröffentlicht worden sind und über Lauren Bacall, seine Frau und Filmpartnerin, auch einige. Warum nun ein weiteres Buch über zwei Menschen, über die schon alles gesagt zu sein scheint, über die man alles zu wissen glaubt? Der vorliegende Band von Joe Hyams unterscheidet sich im Blickwinkel ein wenig von anderen Bogart-Büchern – sein Ansatz ist einigermaßen originell. Hyams stellt nicht den sattsam bekannten Star ins Zentrum, sondern liefert eine Doppelbiographie von Bogart und Bacall, in der er etwa die Lebensabschnitte vor ihrem Kennenlernen in einer Art Parallelmontage schildert und Bogarts Entwicklung mit der Bacalls kontrastiert. Selten wurden die Unterschiede in Herkunft, Alter, Entwicklung und Anspruch dieser beiden Menschen so plastisch. So hält uns Hyams beispielsweise vor Augen, daß zur selben Zeit, als der aus einer wohlhabenden Arztfamilie stammende Nachwuchsschauspieler Bogart in New York das Aufgebot zu seiner ersten Ehe bestellt, dort das Mädchen einer armen jüdischen Einwandererfamilie geboren wird, das später seine vierte Frau werden sollte.
Joe Hyams ist ein durch und durch amerikanischer Autor; dies bestimmt seine Ausdrucksform ebenso wie seine Herangehensweise an den Gegenstand. Sein Buch gehört zu den Büchern, speziell solchen über Hollywood-Stars, die nur und die so nur ein Amerikaner schreiben kann. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist es für einen Amerikaner, der in Hollywood lebt und arbeitet wie Hyams, leichter, einen Insider-Zugang zu den Stars zu erlangen, und der Autor des vorliegenden Bandes hatte diesen zweifelsohne, besonders zum Haushalt Bogart-Bacall. Er lernte 1946 als Korrespondent der New York Herald Tribune die Bogarts persönlich kennen und blieb in Kontakt mit ihnen. Er war derjenige, der, auf Wunsch von Bogart und Bacall, die Nachricht von Bogarts Tod an die Presse weitergab, und er verfaßte bereits 1966 eine offiziöse Bogart-Biographie (Joe Hyams, Bogie: The Biography of Humphrey Bogart, New York 1966), die Lauren Bacall durch ein Vorwort quasi autorisierte.
Diese intime Kenntnis der Hollywood-Society – der Hyams mittlerweile selbst zugehört – führt natürlich zu einer gewissen Verstricktheit, Komplizenschaft, ja mangelnden Distanz und formt auch den Charakter der vorliegenden Doppelbiographie, die man von hier aus wohl nicht so schreiben könnte und auch nicht sollte. (Versuche dieser Art scheitern in der Regel daran, daß sich der Verfasser mit Material aus zweiter bis dutzendter Hand begnügen muß, und sind meist nichts als fleißige, aber blutleere journalistische Kompilationsarbeiten.) Zum anderen dürfte man der Zunft der amerikanischen Filmjournalisten und Filmbuchautoren nicht allzusehr unrecht tun, unterstellte man dem überwiegenden Teil von ihnen ein, nennen wir es einmal: lockeres, unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Sujet. Filmbücher und -artikel sind dort in aller Regel für ein breites Publikum gedacht, das seine liebgewonnenen Träume erhalten haben will und einfühlsame »Wahrscheinlichkeiten« der trockenen Faktenwirklichkeit allemal vorzieht.
Hyams wählt hingegen einen durchaus gelungenen Kompromiß; er vermittelt eine Unmenge sorgfältig recherchierter Fakten, benutzt dann aber als Transportmittel reizvolle Anekdoten, viele sehr subjektive Wertungen von den Bogarts nahestehenden Personen und einige »Wahrscheinlichkeiten«. Auf die Filme, die Bogie und »Betty« (wie Bogart seine Frau nannte) gemeinsam oder einzeln gedreht haben, geht Hyams kaum ein. Zahlreiche Geschichten kreisen aber um die Dreharbeiten, um Produzentenärger und Premierenfeiern. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht jedoch das Familienleben der Bogarts. Hyams malt das Bild eines Traumpaares, dessen Leinwand-Happy-End im fröhlichen Familienleben die Fortsetzung findet. Dabei wird dieses Familienleben, das sich so sehr an konventionellen Werten orientiert, idealisiert: Bogart, der Patriarch und Familienvorstand, Betty, die sorgende Mutter, die ein wenig zum Familieneinkommen beisteuern darf – gewissermaßen einen Obolus für ein paar schicke Möbel (mehr) und etwas elegante Kleidung (zusätzlich). Dies alles kratzt gehörig am typischen Bogart-Mythos. Aber rasch wird er durch einen anderen, neuen ersetzt: Hyams vollzieht damit einen Perspektivewechsel in der Betrachtung von Stars, der in der Entwicklungsgeschichte des Startums seine historische Entsprechung hat. Bis zu den frühen 30er Jahren – vor allem aber in der Stummfilmzeit – galten Filmstars als Götter und Helden, sie waren die Personalisierungen des Idealen; später, und bis heute immer mehr, wurden sie zu Personalisierungen des Typischen, d. h. in zunehmendem Maße Identifikationsfiguren – Sterbliche wie du und ich. Konkret auf Bogart bezogen, heißt das: Während Bogie üblicherweise – und dies zeigt der eingangs genannte Roman exemplarisch – als Idealheld geschildert wird, stellt Hyams Bogart und Bacall als typische (ich bin versucht zu sagen: Durchschnitts-)Amerikaner hin, mit ihrem Wunsch nach Familie, Eigenheim und einem zuverlässigen Auto: Bogart einmal nicht als strahlender Held, sondern der brave und freundliche Nachbar von nebenan, der einem (beinahe) normalen Job nachgeht. Dieses Bogart-Bild ist gewiß glaubhafter als das hergebrachte und steht diesem als nützliches Korrektiv gegenüber.
Hyams nennt sein Buch vordergründig eine Love Story. Es ist aber vor allem die Geschichte eines Mannes, der nach drei gescheiterten Ehen lernt, was es bedeutet, ein Zuhause, einen Ruhepunkt zu haben; und es ist die Geschichte einer jungen Frau – auf der Filmleinwand bedeutend emanzipierter als daheim –, die diesem Manne zuliebe ihre eigenen Karriereansprüche allzu bereitwillig hintanstellt und unter Verzicht auf die Erfüllung ihres eigenen künstlerischen Anspruchs dem ihres Mannes den Weg ebnet. So ergibt die Verbindung der beiden Schauspielerstars Bogart und Bacall nicht die bloße Vebindung zweier Kinomythen, sondern resultiert in einen Mythos sui generis: den der glücklichen Zweierbezeihung zweier ganz »besonderer« Menschen – die sogar selbst an diesen Mythos glaubten und deren ganzes Streben galt, ihn auch zu leben.
Es empfiehlt sich, das Buch nicht ohne das Bewußtsein zu lesen, daß es sich bei ihm – obwohl Mitte der 70er Jahre entstanden – um ein Dokument eines heute in dieser Form nicht mehr existierenden Bogart-Kults handelt, der in dieser Ungebrochenheit und Naivität eher in die 60er Jahre paßt. Die Rezeption Bogarts und seiner Filme ist spätestens seit den ausgehenden Siebzigern eine andere. Bogart-Fans, deren Zahl nicht abzunehmen scheint, huldigen nicht mehr simpel dem verstorbenen Superstar, sondern rezipieren auf einer Metaebene die Kultfigur der 60er Jahre, genießen aus beobachtender Distanz und mit kennerischem Blick für die Mechanismen von Startum und Personenkult den charismatischen Darsteller, der als Detektiv öder Gangster, als Bootskapitän oder Barbesitzer doch immer »nur« Humphrey Bogart ist, der seine Rollen spielt und gleichzeitig seinem Mythos Nahrung liefert.
Dokument – und Produkt zugleich – ist das Buch aber auch des Star- und Publicitysystems der 30er und 40er Jahre, das den großen Studios ermöglichte, ihre festangestellten Stars aufzubauen und deren Mythen und selbst deren Persönlichkeit marktgerecht zu formen. Diesen enormen Mechanismus schildert Hyams' Buch gerade deshalb so anschaulich, weil es sich nicht darüber stellt; seine geringe Distanz zu dem, was es beschreibt, läßt es zum Teil dessen werden, von dem es handelt: einem Hollywood in seiner Glanzzeit, das so heute nicht mehr existiert.
Wie jede Übersetzung ist auch die hier vorliegende eine Adaptation. Das bedeutet in diesem Fall vor allem, daß mit Absicht geringfügige Kürzungen des Textes vorgenommen wurden, insbesondere wurde auf manche der Personennamen, die Hyams mit großer Akribie zitiert, verzichtet. Dieses »name dropping« würde den Text für den deutschsprachigen Leser eher belasten, als ihm interessante oder brauchbare Information zu liefern. Es erscheint uns nicht sehr sinnvoll, anzugeben, wie 1943 der Oberkellner in »Romanoffs Restaurant« hieß (er möge es mir verzeihen) oder wie der Name jeder erwähnten Schulfreundin Bettys lautete, selbst wenn sie heute die Ehefrau eines vielleicht in den USA bekannten Herausgebers eines Wochenmagazins sein sollte.
Mittwoch, 2. Februar 1983
Göttinnen der Leinwand
Vorwort
Göttliche und menschliche Eigenschaften in einer Figur miteinander zu verknüpfen, war für die Griechen der Antike kein Widerspruch. Ihre Mythen berichteten von Göttern und Göttinnen, die unsterblich waren, die Fähigkeit besaßen, sich in allerlei Gestalten zu verwandeln und dennoch Zorn und Liebe kannten, Eitelkeit und Eifersucht, die schön waren und klug oder schwach und unvollkommen.
Die Stars des Kinos erscheinen uns wie eine moderne Ausgabe der antiken Gottheiten: auch sie vereinen übernatürliche Schönheit, Faszi nation und Unwirklichkeit mit alltäglichen menschlichen Schwächen und Stärken, und ihre Existenz vermittelt sich ebenso über Legenden und Mythen. Das Leben der antiken wie der heutigen Götter spielt sich in einem bekannten und doch unerreichbaren Ort ab, heiße er nun Olymp oder Hollywood.
Dies gilt besonders in den zwanziger Jahren und vor allem für den weiblichen Filmstar. In jenen Jahren zwischen dem Ende des Weltkriegs und dem Siegeszug des Tonfilms stand die soeben erst den Kinderschuhen entwachsene Kunst des Stummfilms in ihrer artistischen wie kommerziellen Blüte. Leinwandrollen und Lebensstil verschmolzen bei den weiblichen Filmstars zu einem einheitlichen Image, durch das sie ihrem Publikum ebenso vertraut wie der Alltäglichkeit enthoben waren.
Nicht wirklich schienen sie zu leben, sondern nur vermittelt durch ihre Filme oder durch die nicht weniger sorgfältig inszenierten, zahllosen Legenden der Fan- und Klatschpresse. Und sie waren unsterblich — solange ihre Filme in den Kinos gezeigt wurden und ihr letzter Fan sich ihrer erinnerte. Daß sie stumm waren und bloß durch Gesten, Blicke und Mienenspiel zu uns sprachen, ließ sie nur noch weniger wie Menschen denn wie Göttinnen erscheinen — wie Göttinnen der Leinwand.
Der vorliegende Band porträtiert 46 weibliche Filmstars, deren Karrieren in den zwanziger Jahren den (oder einen) Höhepunkt erreichten, die bestimmend für die verschiedenen Formen der Filme dieser Periode waren und Einfluß hatten auf die Moden und Verhaltensweisen ihrer Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen. Der einführende Essay setzt die in Kurzbiographien und Fotos dargestellten Stars in bezug zur Geschichte des Films, die sich einmal mehr auch als Sozial- und politische Geschichte erweist.
Wenn dies auch nicht der Ort ist, das Phänomen des Starkults näher zu beleuchten — der bereits im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts entstand, in den Zwanzigern aber ins Zentrum der Geschichte des narrativen Films rückte — so sei dennoch darauf verwiesen, daß es für die Produktion und die Konsumtion nicht nur des US-amerikanischen Kinos maßgebend ist, sondern darüber hinaus auch in verschiedenen anderen Ländern auftauchte, wenn auch nicht derart ausgeprägt und zeitlich durchgängig wie in Hollywood.
So ist die Entwicklung des deutschen Films unter diesem Aspekt in den zwanziger Jahren der des US-Films durchaus vergleichbar. Der deutsche Film dieser Dekade war obendrein der einzige wirtschaftlich wie künstlerisch ernstzunehmende Konkurrent des Hollywood-Kinos, und es ergaben sich rege Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Filmländern, wie sich nicht zuletzt im Import deutscher Künstler in die USA und vice versa widerspiegelt.
Ein Abschnitt des Essays widmet sich deshalb dem deutschen Film - auch sind einige deutsche Stars aufgenommen -, obwohl sonst das US-Kino ganz im Zentrum steht.
Montag, 31. Januar 1983
Göttinnen der Leinwand. Die Blütezeit des Stummfilms
Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise: Die Blütezeit des Stummfilms
Die zwanziger Jahre, in Deutschland als «goldene» verklärt, in den USA treffender roaring (tosend, stürmisch) genannt, waren eine Dekade des Umbruchs und der Gegensätze. Für die amerikanische Gesellschaft, die sich von der wirtschaftlichen Depression und dem psychischen Trauma der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegsjahre erholte, brachten die Zwanziger die einschneidendste Veränderung ihrer Geschichte. Die bislang nahezu homogene Mehrheit der Amerikaner spaltete sich in zwei gegensätzliche Lager: auf der einen Seite die modernen, aufgeschlossenen und relativ wohlhabenden Städter, auf der anderen die traditionalistische bis reaktionäre, wirtschaftlich notleidende Landbevölkerung, hauptsächlich kleine Farmer.
Das Bild der modernen amerikanischen Frau war der genaueste Indikator der umwälzenden gesellschaftlichen Strömungen; stellt die Entwicklung der amerikanischen Frau der zwanziger Jahre auch keine streng lineare dar, so läßt sich dennoch feststellen, daß die Frauen gegen Ende der Dekade wesentlich mehr verbriefte Rechte und auch reale Freiheiten hatten als ein Jahrzehnt zuvor. Diese wie auch weitere Veränderungen waren eine mittelbare Folge des Weltkrieges.
Das entscheidende Jahr des Umbruchs war 1919. Zwei wichtige Gesetze traten in Kraft: das allgemeine Wahlrecht für Frauen und das (bereits 1918 in einer Verfassungsänderung beschlossene) Verbot von Alkoholproduktion und -konsum. Daß sich das Frauenwahlrecht endlich durchsetzte, lag nicht zuletzt daran, daß diese unterdrückte Hälfte der Bevölkerung im Weltkrieg ein starkes Selbstwertgefühl entwickelt hatte.
Während die Männer in Europa an der Front kämpften, mußten die Frauen daheim in der Familie und in der Fabrik deren Platz einnehmen. Mit der Zeit hatten sie Geschmack gefunden an der aktiven Teilnahme an der Gesellschaft.
Eine weitere Gruppe von Benachteiligten hatte ebenfalls in den Kriegsjahren als Arbeitskräfte ihren Nutzen für die amerikanische Gesellschaft bewiesen und gab sich nun mit der Außenseiterrolle nicht mehr so leicht zufrieden wie vor dem Krieg: die Schwarzen.
Dies rief die reaktionären und rassistischen Bevölkerungsteile auf den Plan. Die unzufriedenen und ungebildeten Schichten im Süden und im mittleren Westen vereinigten sich – angezogen durch pseudoreligiöse Rituale und unter der Anonymität weißer Kapuzen – in dem ab 1919/20
wieder erstarkenden Ku-Klux-Klan, der bis 1924 auf den Höhepunkt seiner kriminellen Macht gelangte. Diesen Unbelehrbaren ging es jedoch nicht nur um die Neger; ihre Aggression richtete sich in noch stärkerem Maße gegen Einwanderer (vor allem aus dem Fernen Osten), gegen Juden, Intellektuelle, auch gegen Katholiken und gegen Alkoholfreunde sowie gegen alle «linken» Kräfte im politischen Spektrum, besonders den Kommunismus. Die amerikanische Psychose der «Roten Gefahr» griff um sich: Überall witterte man Revolutionäre und Subversive, die «Gottes eigenes Land» zerstören oder, schlimmer noch, in ihre eigene Hand bekommen wollten und die amerikanische Rasse dazu. Unterstützt wurde diese irrationale Angst durch eine Streikwelle im Jahre 1919, die auch viele liberale Amerikaner verunsichert hatte.
War das Frauenwahlrecht ein Erfolg der progressiven, so war die Prohibition, wie das Alkoholverbot bald hieß, ein Sieg der reaktionären Kräfte. Die viktorianisch-prüde, vor allem ländliche Lobby hatte das Gesetz nach jahrelangen Bemühungen durchgesetzt – aber es tat dem Alkoholkonsum in den Städten keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, in bestimmten Gesellschaftsschichten, auch bei vielen Frauen, erhöhte der Touch des Unmoralischen, Gesetzwidrigen nur noch den Reiz der speakeasies, der Flüsterkneipen, die rasch aus dem Boden schössen und, ebenso wie der Drink selbst, chic wurden – wie das damalige Modewort lautete. Der Fusel, der aus Industrie-Alkohol gewonnen oder auf Hinterhöfen und in Kellern zusammengebraut wurde, war meist schlecht, gelegentlich sogar gesundheitsschädlich, und man mußte den Cocktail erfinden, um den miesen Geschmack zu überdecken.
1921 löste Warren G. Harding den seit langem amtierenden Präsidenten Woodrow Wilson ab. Die Wählermehrheit war der hehren Sprüche des moralisch eingestellten Wilson müde und bevorzugte einen Mann, der «Normalität» zu seinem Programm erhoben hatte, womit nichts anderes als wirtschaftlicher und moralischer Liberalismus gemeint war. Aber bereits zwei Jahre später starb Harding, und sein Vize Calvin Coolidge trat seine Nachfolge an - ein frömmelnder Konservativer, der bei seiner Wahl Ende 1924 einen überragenden Sieg verbuchen konnte, da er die Interessen der auf Geschäft und Erfolg programmierten Gesellschaft am genauesten zu vertreten versprach. Dies nützte nur den Farmern nichts und ebensowenig den Gewerkschaften, die unter seiner Ägide wesentliche soziale Errungenschaften früherer Kämpfe wieder verloren. So waren zwei Gruppen von der Prosperität abgeschnitten: die kleinen Landwirte und die einfachen Arbeiter.
Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung brachte die Dekade jedoch einen bislang nicht für möglich gehaltenen ökonomischen Fortschritt. Die immer neue Wirtschaftszweige erfassende Fließbandarbeit produzierte hochwertige Konsumgüter und Gebrauchsgegenstände in Hülle und Fülle und machte sie für (fast) jeden erschwinglich. Die sich emanzipierenden Frauen, die nach dem Krieg ihren Platz in Fabrik, Geschäft und Büro behalten hatten und nun kräftig zum Familieneinkommen beisteuerten, setzten durch, von der eintönigen Hausarbeit weitgehend entlastet zu werden, und man schaffte Staubsauger, Waschmaschinen (später auch Kühlschränke) und andere Haushaltsgeräte an. Zeitsparen war die Devise.
Noch gravierendere Veränderungen brachte ein anderes Industrieprodukt: das Auto. Der gewaltige Boom der Autoindustrie in den Zwanzigern war das beste Beispiel für die Leistungsfähigkeit von Fließbandproduktion und Rationalisierung. Henry Ford – er stellte 1914 das Fließband in seinen Werken auf – ließ seine Arbeiter zwischen 1908 und 1927 zehn Millionen seines berühmten, nur in Schwarz erhältlichen und spartanisch einfachen Modell T, genannt «Tin Lizzy», bauen. Den Einfluß des Automobils auf den American way of life kann man kaum überschätzen: Nahezu jeder einzelne Amerikaner war direkt oder indirekt davon betroffen. Die typischste aller Tugenden der Pionierzeit, die geographische und soziale Mobilität, war nun mit dem Leben in einer Industriegesellschaft vereinbar.
Die unmittelbare Folge der Auto-Mobilisierung war die Umgestaltung der Städte und Vororte. Jeder, der es sich halbwegs leisten konnte, zog in die neu entstehenden riesigen Suburbs, die Schlaf- und Wohnstädte. Das eigene Häuschen mit kleinem Garten wurde oberster Konsumtraum des Durchschnittsamerikaners; dorthin ließ man sich Telefon legen, eine weitere erschwingliche Neuerung, von dort fuhr man mit dem Auto zur Arbeit (zumindest so lange, bis Verkehrsstaus dazu zwangen, mit der Eisenbahn zu pendeln).
Finanziert wurden die in ihrer Summe die Haushaltskasse enorm belastenden Anschaffungen mit gewagten Abzahlungsgeschäften und Ratenkäufen, die so lange gutgingen, wie Jahr um Jahr das Wirtschaftswachstum anhielt und die Einkommen stiegen. Doch das Kredit(un)-wesen war völlig überdreht und der wirtschaftliche Zusammenbruch Ende der Dekade vorprogrammiert.
Auch das Radio trat in den zwanziger Jahren seinen Siegeszug an und wurde rasch zum Mittelpunkt des häuslichen Zusammenlebens. 1922 konnte man zum erstenmal im Radio vernehmen, wie überregionale Firmen für ihre Produkte warben – es begann die rasante Entwicklung des Markenartikels, dessen Name für eine bestimmte Qualität und noch mehr für ein bestimmtes Produktimage steht.
An dem ungeheuren wirtschaftlichen Wachstum, das alle Lebensbereiche erfaßte, partizipierte natürlich auch der Film, der mittlerweile selbst zur Industrie geworden war. Auch in dieses immer noch junge Medium hatten die hohe Arbeitsteiligkeit und das Spezialistentum, die auch in anderen Branchen bestimmend waren, Einzug gehalten. Das Filmstudio war zu einem komplexen System streng getrennter Abteilungen geworden, das von einem bürokratischen Apparat organisiert wurde.
Darüber hinaus hatten die Finanziers der New Yorker Wall Street die ökonomische Potenz des Films richtig erkannt, und sie begannen zu investieren, verfügbare Aktien aufzukaufen oder neue Aktiengesellschaften zu gründen. Zuerst faßten die mittleren Banken, seit den frühen Zwanzigern dann mehr und mehr Großbanken und Mammutkonzerne in der Branche Fuß, die bald zur fünftgrößten Industrie des Landes aufrückte.
Die Industrialisierung des Kinos hatte zur Folge, daß wenige Großfirmen unter sich den Kuchen aufteilten und unter Ausnutzung ihrer gemeinsamen Finanzkraft die unabhängigen Unternehmer, die Hollywood großgemacht hatten, in den Ruin abdrängten. Das Rezept war simpel, aber wirksam: Man produzierte teure Filme mit üppiger Ausstattung, fernen Schauplätzen und einer Unzahl Komparsen, forcierte das Starwesen und nahm die größten Publikumslieblinge unter Kontrakt. Dafür schob man formale und inhaltliche Neuerungen hintenan und strickte immer wieder das gleiche, einmal bewährte Muster. Ab 1923 waren die Inhalte der sogenannten A-pictures, d. h. der Filme mit großem Budget, weitgehend standardisiert. Die Finanziers der Wall Street und ihre Erfüllungsgehilfen, die producer supervisors wurden die eigentlichen Filme-Macher – sie schrieben den Regisseuren die Stoffe und die Besetzung vor und entzogen ihnen die Entscheidung über den Schnitt. Die Regisseure wurden zu weisungsgebundenen Angestellten mit festem Wochenlohn wie die Techniker und Bühnenarbeiter.
Nicht mehr die künstlerische Einzelpersönlichkeit wie in der ersten Dekade des Jahrhunderts bestimmte die Gestaltung eines Films, sondern der tatsächliche oder künstlich gesteuerte Publikumsgeschmack -jedenfalls das, was den meisten Profit versprach. Der Film selbst wurde zum Markenartikel; sein außerfilmischer Prestigewert wurde erfolgsbestimmend. Beispielsweise floß die Veröffentlichung der Produktionskosten und der Stargagen, die nie wieder diese atemberaubende Höhe erreichten, in die Public Relations mit ein. Die Filmsujets konzipierte man gleich auf internationale Verwertbarkeit und betrachtete den Filmexport als Türöffner für andere Produkte: Wo der amerikanische Film an Terrain gewann, ließen sich amerikanische Waren besser verkaufen.
Aber nicht nur die Filme hatten sich gewandelt, mit ihnen auch die Kinos und ihre Besucher. Die billigen Nickelodeons waren passe; an ihrer Stelle entstanden luxuriöse Erstaufführungskinos im Empirestil, mit ägyptischen oder chinesischen Inneneinrichtungen. Nicht mehr die oft der amerikanischen Sprache unkundigen Einwanderer (deren Zerstreuung der kurze stumme Film gewesen war) oder die amerikanischen Proletarier strömten in die Vorführsäle; das Kino war vielmehr zum Tempel des Mittelstands und der bürgerlichen Familie geworden.
Wie kein Jahrzehnt später oder gar zuvor waren die Zwanziger eine Ära der Helden und' Idole. Nicht nur die Kinostars zählten dazu, ebensosehr Sportler wie der Boxweltmeister Jack Dempsey, berühmte Baseball- oder Football-Spieler, Golfer, Jockeys, der Tennischampion William Tilden, Gertrude Ederle, die erste Frau, die den Kanal durchschwamm, und der Atlantikflieger Charles Lindbergh. Sie alle trugen zum wachsenden Nationalbewußtsein der Amerikaner bei und dazu, daß sich der American way of life als alleinseligmachende Lebensart herauskristallisierte. Ihre immense Popularität erreichten die Helden, weil die sinkende Arbeitszeit das Verlangen nach Sport, Zerstreuung und Hobbies erweckte.
Verbreitet wurden die Mythen der modernen Helden durch reißerisch aufgemachte Bild-Zeitschriften und Klatschillustrierte, die das Leben der Idole millionenfach in jeden Haushalt brachten. Der Schwerpunkt der Berichterstattung lag auf Sport, Sex, Verbrechen und anderen spektakulären Begebenheiten. Schlagzeilen machten auch eminent politische Ereignisse, die rasch auf Gazettenniveau heruntergeschraubt wurden. So hielt der Prozeß gegen die mutmaßlichen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, der viele Liberale und Linke einte, die Nation von 1920 bis 1927 in Atem; oder das Verfahren gegen einen Schulmeister, der Darwins Theorie von der Evolution der Arten anstelle der gebotenen Schöpfungslehre verbreitet hatte, was 1925 den Protest der Fundamentalisten des Mittleren Westens hervorrief.
Fast zu Helden stilisiert wurden auch berühmte Gangster, allen voran AI Capone, denen die Prohibition einen idealen Tummelplatz für ihr Bandenunwesen beschert hatte, die von den Autos profitierten – welche völlig neue Verbrechenstypen ermöglichten – und die ihre Maschinenpistolen aus den Kriegsjahren zurückbehalten hatten. Die Gangster, vor allem die wuchernde Mafia, begnügten sich bald nicht mehr mit bloßem Alkoholschmuggel, sie versuchten auch, die Prostitution und das Glücksspiel in ihre Organisation einzugliedern und lieferten sich blutige Straßenschlachten.
Auch das. Filmbusiness war täglich in den Klatschspalten. Dies war anfänglich, ebenso wie das Entstehen von Fanzeitschriften und -klubs, durchaus förderlich für die Filmwirtschaft und besonders für das Starsystem, das aus gesteuerten Skandalen seine Mythen destillierte und die Images der Stars gewann. Aber bald schlug das Pendel in die Gegenrichtung, als eine Serie von Skandalen Hollywood bis in die Grundfesten erschütterte und die Regenbogenpresse diese immer wieder aufbauschte und den Moralaposteln und selbsternannten Sittenwächtern täglich Munition gegen das «neue Sodom» lieferte.
Vor allem zwei Skandale machten der Filmmetropole Anfang der Zwanziger arg zu schaffen. 1921 wurde nach einer tage- und nächtelangen Party in einem Hotel/m San Francisco ein Mädchen mit dem fast programmatischen Namen Virginia Rappe verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert und verstarb an zunächst unerklärlichen Ursachen. Im Lauf der polizeilichen Untersuchung wurde der Gastgeber, der ebenso beliebte wie beleibte Komiker Roscoe «Fatty» Arbuckle, festgenommen und des Totschlags bezichtigt: Er habe das Mädchen auf abartige Weise vergewaltigt und dabei innerlich schwer verletzt. Arbuckle wurde zwar später von der Anklage freigesprochen, aber sein Ruf als Familienunterhalter war zerstört, so daß er nie wieder Arbeit als Schauspieler bekommen konnte. Während Arbuckle noch der Prozeß gemacht wurde, entlud sich das nächste Gewitter über Hollywood.
Der bekannte Regisseur William Desmond Taylor wurde im Februar 1922 in seinem Haus erschossen aufgefunden. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, daß die beiden letzten Personen, die ihn lebend gesehen hatten, die Stars Mary Miles Minter und Mabel Normand gewesen waren. Taylor hatte nicht nur mit den beiden (unabhängig voneinander) intensive Verhältnisse unterhalten, sondern auch noch mit der Stiefmutter von Mary Miles Minter. Damit waren die Karrieren der beiden Stars, die mit dem nie geklärten Mord offenbar nichts zu tun hatten, hochgradig gefährdet – zumal sich die Angelegenheit auch noch zu einem Drogenskandal auswuchs. «M.M.M.» mußte als erste von der Leinwand Abschied nehmen, und auch Mabel Normands Karriere war bald zu Ende.
Den Moralisten war das aber noch nicht genug, sie wollten den Sumpf völlig trockenlegen. Zwischen 1920 und 1922 hatte sich der Protest gegen die Filmindustrie, den Lebenswandel der Hollywoodstars und die angebliche Unmoral der Filme zu organisieren begonnen. Vor allem die Religionsvereinigungen und der Dachverband der Frauenvereine riefen nach staatlicher Zensur und drohten Boykottmaßnahmen an. In einigen Bundesstaaten gab es bereits Zensurgesetze, und die Firmen bangten um ihren Absatzmarkt und beschlossen, eine Organisation ins Leben zu rufen, die durch Selbstkontrolle einer bundesweiten staatlichen Zensur zuvorkommen sollte. Dies war um so mehr vonnöten, als 1922 eine kurze Depression die Kinobesitzer und Filmproduzenten beunruhigte und ein Boykott eine äußerst reale Gefahr darstellte.
Im März 1922 wurde der ehemalige Postminister Will H. Hays zum Präsidenten der neu gegründeten Motion Picture Producers and Distributors of America Inc. (MPPDA) berufen, deren Name so umständlich war, daß man allgemein nur vom «Hays Office» sprach. Das rasch erreichte Ziel der Organisation war es, anhand von – 1927 dann in einem production code zusammengefaßten – Regeln schon bei der Planung der Filme und bei der Erstellung der Drehbücher «Fehler», d. h. «gewagte» politische oder sexuelle, antireligiöse oder kriminalistische Themen, zu vermeiden.
Die Filmproduzenten fanden jedoch immer neue Mittel und Wege, den Kodex durch subtilere, unangreifbare Darstellungsweisen zu unterlaufen, welche die Phantasie der Zuschauer mit einspannten oder durch ein Happy-End alles vorige wieder entschärften. Das wilde Treiben der Stars wurde nur eine Zeitlang vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, dann war wieder alles beim alten, und auch die Moralklauseln in den Verträgen der Schauspieler zeigten kaum Wirkung. Einige Jahre später, als um 1926 die Kasseneinnahmen nachließen und die Filmstoffe durch die Standardisierung in Langeweile erstarrt waren, bediente man sich neben der Entwicklung des Tonfilms auch verstärkt des kreativ eingesetzten Skandals, um die Aufmerksamkeit des Publikums wieder auf das Kino und seine Stars zurückzuziehen.
Um die launische und unberechenbare Gunst der Zuschauer wenigstens etwas kalkulierbarer zu machen, verfielen die Produzenten Anfang der zwanziger Jahre auf das risikoarme, die Filme aber rasch stagnieren lassende type casting, das Besetzen von Filmrollen mit Stars, die solche oder ähnliche Rollen bereits erfolgreich verkörpert hatten. Hollywood begann in standardisierten Filmplots und mit festumrissenen Images der Stars, deren Leinwandrollen sich ins Privatleben verlängerten, das aktuelle Frauen- und Männerbild zu reflektieren, gleichzeitig aber auch in die Ausprägung dieses Abbildes einzugreifen, indem es die Zuschauer zu Nachahmern und Fans machte.
Dies bedeutet keineswegs, daß die Filmstoffe damit auch eine realistische Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände oder Entwicklungen geliefert hätten – im besten Fall ein euphemistisches Aufgreifen «aktueller» Themen. Die Filme waren in hohem Maß eskapistisch, wie auch die gesamte Freizeit- und Konsumideologie dieser Zeit. Man könnte die Lebenseinstellung der breiten Masse der Städter als Hang zur Realitätsflucht charakterisieren.
Die bevorzugten Filmarten vermitteln eine Vorstellung dieses Bedürfnisses: oberflächliche Komödien, kitschige Romanzen und die flotten Ehedramen von Cecil B. DeMille. Die Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg oder den Entbehrungen der Nachkriegszeit war zumindest im Film beendet, bis auf zwei Ausnahmen: THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE (1921) von Rex Ingram und THE BIG PARADE (1925) von King Vidor lieferten eine durchaus ungeschönte Darstellung der Kriegsgreuel und vermochten auch das Engagement des Zuschauers zu wecken.
Die weiblichen Filmstars wurden durch das type casting in eng definierte Startypen unterteilt, die einander ablösten und die nur wenige Stars durchbrechen konnten. Eng damit verbunden war die Herausbildung entsprechender Sujets, welche die jeweils aktuellen Moden und Umgangsformen aufgriffen und ins Publikum zurückspiegelten.
In den ersten Nachkriegsjahren und ganz zu Beginn der Zwanziger konnten einige Schauspielerinnen, die bereits vor dem Krieg größere Rollen gespielt hatten oder gar Stars gewesen waren, in verschiedenen Filmen den überkommenen Typus der «gebrochenen Blüte» fortsetzen, obwohl dessen Geltung nur noch gering war und hauptsächlich beim ländlichen Publikum Zuspruch fand. So traten Lillian Gish und Carol Dempster in den Filmen David Wark Griffiths zu Beginn der Zwanziger die Nachfolge Mary Pickfords an, die nach ihrer Trennung von dem Altmeister kaum noch Erfolge verbuchen konnte. In BROKEN BLOSSOMS (1919), der noch zu den beliebteren dieser Filme gehörte, stellte Lillian Gish die bis zum Tode gequälte Tochter eines brutalen Boxers dar oder in WAY DOWN EAST (1920) eine schwangere Braut, die feststellen muß, daß ihre Ehe ungültig ist und nur ein Vorwand war, sie ins Bett zu bekommen. Carol Dempster lieferte etwa in DREAM STREET (1921) eine eher neckische Variante der verfolgten Unschuld, wie sie Jahre zuvor die Pickford erfunden hatte.
Ahnliche Griffith-Dramen handelten von Vergewaltigung, Verführung, unehelichen Kindern, Heirat ohne Liebe oder Scheinehen und von anderen Greueltaten der ach so bösen Männer, deren bislang unterdrückte Sexualität sich nun in Sadismus entlud. ORPHANS OF THE STORM (1922) benutzte gar das Ambiente der Französischen Revolution für die Darstellung des düsteren Schicksals zweier Waisenkinder -gespielt von den beiden Gish-Schwestern, die zwar von den Kritikern gelobt wurden, aber nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß der Film nicht gerade auf der Höhe seiner Zeit war.
Eher als Lillian Gish und Carol Dempster konnten sich von den Altstars noch Bessie Love und Dorothy Gish in den Zwanzigern zu einem aktuelleren Typ durchringen; Dorothy Gish gelangen sogar ein paar gute komische Rollen, obwohl auch sie den Status nicht mehr erreichte, den sie unter Griffiths Regie innegehabt hatte. Aber die Zeit der verfolgten Unschuld, der «gebrochenen Blüten», war angesichts des neuen Verhältnisses von Mann und Frau endgültig zu Ende; ein neuer Frauentyp mußte auf die Leinwand gebracht werden – die Frau von Welt.
Ein für das traditionelle Einwanderungsland USA besonders schwer zu fassendes Phänomen war die in den Jahren 1919/20 sich manifestierende Angst der Amerikaner vor dem Einfluß der einwanderungswilligen oder bereits eingewanderten Ausländer. Immer größeren Beschränkungen sahen sich potentielle Immigranten ausgesetzt, insbesondere durch die 1921 verabschiedeten (und 1924 noch verschärften) Quotengesetze. Die Xenophobie und der Haß auf alles des Kommunismus Verdächtige trieb unglaubliche Blüten. Gleichzeitig aber und nur in scheinbarem Widerspruch dazu lebte ein neidvolles Interesse an europäischer Kultur und Lebensart auf. Diese ambivalente Haltung zum Fremden drückte sich in sublimierter Form in der mit Furcht gepaarten Sehnsucht nach geheimnisvoller Erotik aus, die der Film im Imago der mystischen, exotischen «Dame von Welt» reflektierte. Diese «Mondäne» war der erste Frauentyp der zwanziger Jahre. Er ließ die viktoria-nischen Schönheiten à la Pickford mit ihrer tief verborgenen, eisigen Erotik, hinter der verfolgten Unschuld getarnt, uninteressant und antiquiert erscheinen. Sie verschwanden, wie auch ihr Schöpfer Griffith selbst, bald in der Versenkung.
Der neue Frauentyp knüpfte eher noch an den ebensoweit zurückliegenden exotischen Vamp Theda Bara und deren Epigonen an. Doch auch Bara hatte 1919 die Filmstadt in Richtung Broadway verlassen müssen – in einer Zeit, in der Sex nicht mehr verteufelt war, hatte der exotische männerverschlingende und unheilvolle Vamp keinen Platz mehr, er wirkte lächerlich. Die nun gefragte, zwar auch geheimnisvolle und selbstbewußte Dame von Welt konnte dagegen als Partnerin des Mannes gelten, allerdings als eine, die dem Manne überlegen war. Da man diesen Frauentyp der Amerikanerin nicht zutraute, versah man ihn mit einem Touch des Ausländischen. Diesmal waren die Schauspielerinnen, die dieses Image trugen, authentisch und nicht - wie einst Theda Bara - homemade: Man importierte direkt aus der Alten Welt; die Frauen mußten nur dunkelhaarig, slawischen oder südeuropäischen Ursprungs sein und eine Aura des Dekadenten haben.
Den Anfang machte die Russin Alla Nazimova, die wie viele Vertreterinnen ihres Typs, gemeinsam mit ihrem männlichen Gegenstück Rudolph Valentino, der gültigsten Inkarnation des Latin lover, auftrat. Nazimovas Frauenfiguren haftete stets der Ruch des Künstlichen, Überstilisierten an, beispielsweise ihrer Kameliendame von 1921, und dennoch waren die Zuschauer bereit, sich von ihr in den Bann schlagen zu lassen. Noch näher dem exotischen Vamp stand die italienischstämmige Nita Naldi, die in drei Filmen ebenfalls Partnerin Valentinos war. Sie mußte häufiger die «böse Frau» in sexuellen Dreiecksbeziehungen darstellen, da sie mit ihrem androgynen Touch kaum als Identifikationsfigur geeignet schien.
Die später folgende Konkurrentin (und Freundin) der Nazimova, die Polin Pola Negri, übertraf deren Erfolge bei weitem. Pola war natürlicher und «realistischer» als Alla Nazimova und brachte den Typ der Mondänen, der bereits ihre Rollen im deutschen Film geprägt hatte, zur Vollendung. Die in Österreich-Ungarn geborene Vilma Bánky, die einzige Hellhaarige unter ihren Konkurrentinnen, verkörperte ab 1925 eine weichere, romantische Weiterentwicklung der Mondänen; auch sie trat in zwei Filmen an der Seite Valentinos auf.
Die Sehnsucht Hollywoods nach Fremdländischem und gleichzeitig auch das nicht weniger virulente Bedürfnis nach kulturellem Prestige befriedigten in den frühen Zwanzigern die Romane des spanischen Romanciers Vicente Blasco Ibáñez (1867-1928). Zahlreiche seiner dem Naturalismus Zolas verpflichteten Werke wurden für die Bühne bearbeitet und verfilmt. Die größten Erfolge erzielten wohl die nach seinen Vorlagen entstandenen Valentino-Filme THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE (1921) und BLOOD AND SAND (1922) und die beiden ersten amerikanischen Filme Greta Garbos, THE TORRENT und THE TEMPTRESS aus dem Jahre 1926. Mit ihrer Heldendramatik und der Desillusion sämtlicher Ideale gaben Blasco Ibáñez' Romane (obwohl teilweise früher geschrieben) recht genau das Gefühl der vom Weltkrieg enttäuschten und ihrer Jugend beraubten Generation wieder und erreichten in Amerika Bestseller-Auflagen.
Die Importe aus Europa konnten aber bei weitem nicht die Nachfrage nach Darstellerinnen der mondänen Frau befriedigen, und man mußte Amerikanerinnen auf diesen Typ einschwören. Ein ausgesprochen europäisches, dekadentes Image legte sich die Amerikanerin Barbara La Marr zu, eine katzenartige Schönheit, die aber unfähig war, Privatleben und Filmrolle auseinanderzuhalten, und ihren Starruhm mit einem frühen Tod bezahlte.
Oberflächliche Rollen im Stil der mehr vamphaften Mondänen erhielten Mae Murray und ZaSu Pitts, die damit genau das Gegenteil ihres früheren Typus spielten. Murray hatte in den Vorkriegs- und Kriegsjahren das liebe Mädchen in einer Welt von Bösewichten verkörpert, und ZaSu Pitts war zur selben Zeit Nebendarstellerin in Pickford-Filmen gewesen. Beide konnten in den Zwanzigern aber in Filmen Erich von Stroheims, abseits ihres definierten Image, beachtliche Leistungen zeigen. Beispielsweise stellte Pitts in Stroheims Meisterwerk GREED (1923) eine Frau dar, die deutlich die pathologische Kehrseite der viktorianischen Unschuld mitsamt ihrer verklemmten Sexualität – hier sublimiert in ihrer monströsen Geldgier – reflektiert.
Einer der ganz großen Stars des amerikanischen Kinos war Gloria Swanson. Sie nahm auch den Platz der Mondänen ein, beschränkte sich jedoch nicht auf diesen Typ, sondern spielte alle möglichen Rollen, auch die moderne junge Frau, komische Parts und sogar ausgesprochene Dummchen, ohne die Zuneigung ihrer enormen Anhängerschar zu verlieren. Ab 1918 drehte sie vor allem mit Cecil B. DeMille, der wie kaum ein anderer alle Möglichkeiten ausschöpfte, innerhalb des Rahmens der damaligen (Selbst-) Zensur Sexualität darzustellen - und dies, obwohl er im Grunde seines Herzens Viktorianer war und blieb. Er wurde zum prägendsten Filmemacher der frühen Zwanziger, war ungeheuer produktiv und arbeitete mit allen bekannteren Schauspielern und Schauspielerinnen zusammen.
Der Schlüsselfilm der Verbindung Swanson-DeMille war DON'T CHANGE YOUR HUSBAND (1919), in dem die Swanson eine vernachlässigte Ehefrau darstellte, die einen anderen kennenlernt und nach ihrer Scheidung heiratet, aus dieser zweiten Ehe aber wieder zu ihrem ersten Mann zurückkehrt. Damit hatte DeMille seine Formel gefunden: die moderne Ehe der zwanziger Jahre spielerisch zu porträtieren – mit ihren Problemen der Langeweile, Untreue, der Bedrohung durch einen oder eine Dritte(n), aber auch der Möglichkeit, durch einen Seitensprung eine eintönige Beziehung neu zu beleben. Die wohl aufsehenerregendste «Erfindung» DeMilles, dessen Karriere die enorme Zeitspanne von 1913 bis 1956 umfaßte, waren aber Szenen in üppig ausgestatteten Badezimmern – mehr Säle denn Zimmer –, in denen er eine kräftige Portion Erotik zeigen konnte, ohne deren eigentlichen Ort, das mit Tabu belegte Schlafzimmer, benennen zu müssen. Wo war es unschuldiger und natürlicher, sich auszuziehen, als im Badezimmer? Wahre Reinigungs- und Badeorgien fanden statt, die etwas Kultisches, ja Religiöses an sich hatten.
Aus seinen Plots ergab sich, daß Ehe und Liebe keine Gegensätze zu sein brauchten - nie stellte er die Ehe als Institution in Frage -und daß Reichtum und Luxus keine Schande waren. Ab 1923 verfiel DeMille unter dem wachsenden Zensurdruck auf einen anderen Trick: Er baute in seine Handlungen Rückblenden auf prähistorische oder biblische Zeiten ein und konnte darin gewagtere Szenen zeigen als in der Gegenwart; oder er drehte gar freimütige Bibel-Epen, bei denen er auf die unangreifbare Vorlage verweisen konnte.
Gloria Swanson aber war ganz MADAME SANS GÊNE (Dame ohne Hemmungen), wie einer ihrer Filmhits hieß, den sie 1925 in Frankreich drehte, und wurde 1926 zum höchstbezahlten Star; und nur Pola Negri konnte ihr gegen Ende der Dekade den Rang ablaufen. Eine Episode am Rande illustriert recht anschaulich, wie sehr man bemüht war, sich ein europäisches Image zuzulegen: Pola Negri hatte sich in den USA ihrer früheren Ehe mit dem Grafen Eugen Dombski gerühmt, und Gloria Swanson war 1925 an der Seite ihres dritten Ehemannes, des Marquis de la Falaise de Coudraye, aus Europa zurückgekehrt. Daraufhin sah sich Mae Murray veranlaßt, noch im selben Jahr einen der beiden in Hollywood residierenden georgischen Prinzen, den Fürsten David Mdivani, zu ehelichen. Die nun ins Hintertreffen geratene Pola Negri -ihre Verbindung mit dem polnischen Grafen lag weit zurück und eine Ehe mit Valentino kam nicht zustande - holte zwei Jahre später auf, indem sie den Schwager ihrer Konkurrentin, den Fürsten Serge(j) Mdivani, zum Mann nahm.
Cecil B. DeMille, Gloria Swanson, Erich von Stroheim und ein paar weitere Größen dieser Zeit waren 1950 wieder vereint in Billy Wilders bitterem Abgesang auf die Stummfilmzeit, sunset boulevard. Die Swanson spielte darin einen ehemaligen Stummfilmstar, der von vergangenen Tagen träumt, Stroheim ihren ehemaligen Regisseur und jetzigen Diener und DeMille einen weiteren Regisseur.
Von Stroheim war in der Tat ein überaus wichtiger Regisseur der Zwanziger. Gloria Swanson drehte mit ihm 1928 den von ihr auch finanzierten Film QUEEN KELLY, der jedoch nie richtig fertig wurde und ihr fast den Ruin brachte. Der Einwanderer aus Wien, seit circa 1906 in den USA, wurde zuerst Assistent Griffiths, begann dann ab 1918 eigene Filme zu drehen. Er schilderte darin, unter Betonung von Fetischismus und Obsession, die Dekadenz des europäischen Adels und der k. u. k. Offiziere, deren letzte Abkömmlinge die amerikanische Frau, in Europa zu Besuch, faszinierten und mit Leichtigkeit verführen konnten. Stroheims Schwierigkeit bestand aber darin, daß er bei seinen üppigen Ausstattungen, vor allem aber beim Materialverbrauch keine Grenzen kannte und seine Produzenten fast in den Wahnsinn trieb - zumal sich seine Verschwendungssucht nicht wie bei DeMille in den Bildern seiner Filme niederschlug: Auch die Verschwendung hat in Hollywood ihre eigene Ökonomie. Kaum einer seiner oft überlangen (in ihren ursprünglichen Fassungen bis zu sechs Stunden dauernden) Filme konnte in der Form erscheinen, die ihr Regisseur kreiert hatte. Ab 1933 ließ man ihn nur noch als Schauspieler arbeiten.
Neben Swanson und La Marr gab es noch eine lange Reihe weiterer einheimischer Darstellerinnen der Mondänen, aber nur wenige waren erfolgreich. Norma Talmadge spielte meist die stolze Schönheit, die an dramatischem Liebeskummer verbrennt, und Norma Shearer trat gelegentlich in larmoyanten Dramen auf, aber auch in anderen Rollen bis hin zu Komödien. Weniger deutlich, aber durchaus mit Anklängen an die Mondäne, waren die Rollen Mary Astors, etwa in DON JUAN (1926), obwohl ihr madonnenhaftes Aussehen diesen Typus leicht konterkarierte.
Oberste Göttin aller Göttinnen aber war ein Star der zwanziger (und auch dreißiger) Jahre, der zwar auch Rollen im Stil der Mondänen spielte, der aber ganz als ein Star sui generis anzusehen ist: Greta Garbo, die «Göttliche». Waren die anderen Stars dieser Dekade möglichst bestrebt, ihre Filmrollen und ihr Image zu einer Einheit zu verschmelzen, in die oft genug auch ihr Privatleben mit einfloß, so entzog sich die Garbo, nicht zuletzt wegen ihrer fast krankhaften Schüchternheit, völlig der Publicity-Maschinerie Hollywoods und jeglicher gesellschaftlichen Kontakte, was aber dem Ranken ihrer «Legende» nur zuträglich war. Zahllose Elogen wurden über sie verfaßt, die ihr ebenmäßiges, nach klassischem Ideal geschnittenes Gesicht, ihre die Gedanken reflektierenden Augen oder ihren schlanken, aufrechten Körper mit seiner unterkühlten erotischen Ausstrahlung priesen und ihr dennoch nicht gerecht wurden. Vor allem europäische Intellektuelle schienen in ihr das Ziel ihrer erotischen Träume gefunden zu haben, während ihr amerikanischer Ruhm stets hinter dem in Europa zurückblieb. Dank ihres Aussehens und wegen ihres Mythos wurden ihre schauspielerischen Leistungen hoch eingeschätzt, man möchte sagen, überschätzt. Siegfried Kracauer faßte in seiner «Studie» über Greta Garbo zusammen: «Das eigentliche Geheimnis der Garbo besteht eben darin, daß sie einen Typus versinnlicht, der gar kein Typus ist, sondern gewissermaßen die Gattung selber repräsentiert.»
Die einzige Filmindustrie, die in den zwanziger Jahren neben Hollywood Weltrang hatte, war die deutsche, die außerdem das US-Kino stark inspirierte. Mit dem Ausbruch des Weltkrieges war in Deutschland ein enormes Bedürfnis nach einheimischen Filmen entstanden, da ausländische kaum noch importiert werden konnten. Im Lauf des Krieges stieg die Zahl der Produktionen stark an, zumal auch die Frontkinos mit Filmen versorgt werden mußten; und 1917 unterstützte die Reichsregierung auf Betreiben General Ludendorffs die Gründung der Ufa. Zweck dieser zentralen Produktionsgesellschaft, an der bald auch Banken und Industrieunternehmen beteiligt waren, sollte neben der Herstellung von Propagandafilmen auch sein, die Moral des Militärs wie der Zivilbevölkerung und das Ansehen Deutschlands im Ausland zu heben.
Nach dem Krieg begann man, Lustspiele zu drehen, bald auch Kostüm- und Ausstattungsfilme im Stil der italienischen Großproduktionen der zehner Jahre. Ebenso wie die Diven des italienischen Films ein Jahrzehnt zuvor erreichten in den Zwanzigern deutsche Schauspielerinnen den Status des Stars. Zwar hatte es in Deutschland bereits mit Asta Nielsen und Henny Porten zwei Schauspielerinnen gegeben, deren Popularität und Leinwandimage sie zu Stars werden ließen, doch ihr Ideal der romantisch-tragischen Frau war 1920 überholt. Auch in Deutschland hatte sich nach dem Weltkrieg ein Lebensoptimismus entwickelt, der eine Figuration im Film verlangte. Es entstand eine eigene Variante der Mondänen: die Halbwelt-Dame.
Die Wesenszüge dieses neuen Frauentyps entzogen sich der rationalen Erfassung; seine Rollenfiguren waren stets mit einem «Schatten eines Geheimnisses» umgeben, der ihn ein wenig verrucht machte und mehr als die Mondänen Hollywoods der Demimonde zugehörig erscheinen ließ - nicht umsonst hatten in Deutschland sogenannte «Straßenfilme» eine Zeitlang Konjunktur.
Die Halbwelt-Dame verkörperte zuerst Pola Negri in Filmen von Ernst Lubitsch, mit dem sie später aufgrund der amerikanischen Erfolge von MADAME DUBARRY (1919) und SUMURUN (1920) in die USA geholt wurde. Diese Filme trugen nicht wenig dazu bei, daß die Amerikaner sich für die (vermeintliche oder reale) Lebensart der Alten Welt mehr und mehr begeisterten und sich kulturell wie künstlerisch unterlegen fühlten. Auch bahnten diese Filme den Weg nach Hollywood für zahlreiche andere europäische, insbesondere deutsche Künstler. Diese Tendenz verstärkte noch das CABINET DES DR. CALIGARI, der 1921 mit zweijähriger Verspätung in die USA gelangte.
Im Jahre 1919 hatte Robert Wiene das CABINET DES DR. CALIGARI nach einem Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz gedreht. Dieses düstere Drama mit einer phantastischen Geschichte begründete mit seiner ganz vom deutschen Expressionismus beeinflußten Dekoration eine völlig neue Stilrichtung und leitete damit eine der fruchtbarsten Perioden des deutschen Films ein. Bis zur Mitte der zwanziger Jahre war der expressionistische Film, der eine bewußte Gegenströmung zu den Kostümschinken darstellte, auch bestimmend für das Erscheinungsbild der Stars. Lil Dagover hatte mit diesem Film ihren Durchbruch erreicht und zeigte sich als die am wenigsten vamphafte und auch wohl in ihrer Darstellungsweise intelligenteste Filmschauspielerin ihrer Zeit. Ihr lag am besten die «Salondame», und sie arbeitete in dieser Rolle mit den besten Regisseuren zusammen: mehrfach mit Fritz Lang und mit ihrem Entdecker Friedrich Wilhelm Murnau in zwei ausgezeichneten Filmen, in PHANTOM (1922) und TARTÜFF (1925).
Leidenschaftlicher und tragischer waren die Rollen, welche die ehemalige Tänzerin Lya de Putti zu verkörpern hatte, vor allem in der Dreiecksplotte variete und in der melodramatischen Liebesgeschichte MANON LESCAUT aus den Jahren 1925 und 1926. Auch sie holte man in die USA, wo sie jedoch scheiterte. Dämonisch stellte gegen Ende der Zwanziger Brigitte Helm in drei Filmen die Frau dar. Vor allem im Genre des Phantastischen Films war sie die undurchschaubare und geheimnisumwitterte Magierin, welche die Männer ins Verderben zog. Gleich in ihrem ersten Film, Fritz Langs METROPOLIS (1927), in dem sie eine Doppelrolle hatte, konnte sie ihren eigenen Typus definieren. Ihr klargeschnittenes, aber nicht wirklich schön zu nennendes Gesicht prädestinierte sie für die Darstellung der starken, selbstbewußten Frau.
Weniger die Halbweltdame als die moderne junge Frau verkörperte die russischstämmige Olga Tschechowa bereits in ihrem Debütfilm SCHLOSS VOGELÖD (1921) von F. W. Murnau. Ihrer Schönheit und
Eleganz entsprechend trat sie nach ihrer Titelrolle in NORA (1925) vorwiegend in aufwendigen Produktionen auf und erlangte in den Zwanzigern außerordentliche Beliebtheit bei den Zuschauern. Wie viele andere deutsche Schauspielerinnen arbeitete auch sie gelegentlich in den USA und in den europäischen Nachbarländern.
Es gab allerdings auch den umgekehrten Fall, den einer Amerikanerin, die in Deutschland populär wurde: Louise Brooks. Nach ihren vergleichsweise bescheidenen Erfolgen in den USA kam sie 1928 nach Deutschland und wurde berühmt mit ihrer Rolle als Lulu in DIE BÜCHSE DER PANDORA (1928). Der Regisseur dieses Films, Georg Wilhelm Pabst, hatte 1925 mit DIE FREUDLOSE GASSE eine Welle von problem-und realitätsbezogenen Filmen ausgelöst, die sich als bewußte Gegenbewegung zum Expressionismus verstand.
Diese neue Richtung beschränkte sich nicht auf den Film, sondern war auch in der bildenden Kunst, der Architektur und der Literatur bestimmend und erhielt den Namen «Neue Sachlichkeit». Pabst wurde deren bedeutendster Regisseur, und er fand in Louise Brooks seine perfekte Darstellerin. Nach der wedekindschen LULU spielte sie in Pabsts DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN (1929) eine vergleichbare Demimonde-Rolle.
Wenn der amerikanische Startypus der Mondänen der frühen und mittleren zwanziger Jahre doch eher den sublimen erotischen Vorstellungen der noch im Viktorianismus aufgewachsenen Männer entsprach, so konnte das jüngere Publikum, vor allem aber die von der Emanzipationsbewegung erfaßten Frauen der jungen Generation sich mit einem gegenwartsbezogenerem Frauentyp identifizieren: dem Flapper (etwa: Backfisch) oder Jazz-Baby. Der Flapper lebte zwar nicht in dem verschwenderischen, selbstverständlichen Luxus wie die Dame von Welt, aber Luxus, d. h. in seiner bescheidenen Ausprägung als Konsum, war auch das Ziel dieses modernen Frauentypus.
Zum erstenmal waren die Stars auf der, Leinwand mit ihren unbekannten Zuschauerinnen im Kinosaal identisch – vielleicht noch ein wenig frecher, kesser, selbstbewußter. Aber die Flapper oben wie unten folgten demselben Ideal: Sie waren sportlich, trugen die neue Modefrisur Bubikopf oder kurze Locken, waren gewitzt und schlagfertig, rauchten und tranken - trotz Prohibition. Ihre Mütter, die wie Mary Pickford aufgewachsen waren, beklagten den Rückgang des Einflusses von Elternhaus und Religion und waren entsetzt. Auf die junge Generation hatte das Kino eine ungeheure Wirkung, vergleichbar mit der des Fernsehens heute.
Ihre Korsetts und Petticoats hatten die Flapper verbrannt, und sie drückten ihre Brüste mit Bändern flach an den Leib, da ein leicht androgyner oder besser: kindlicher Frauentyp gefragt war. Dafür zeigten sie um so mehr Bein: Sie rollten ihre Seidenstrümpfe bis zur Wade herunter (ROLLED STOCKINGS hieß 1927 der Titel eines beliebten Flapper-Films), und ihre Röcke wurden immer kürzer – wodurch die Textilindustrie in eine Flaute geriet, während die Zigaretten- und die Kosmetikbranche florierten. Man hörte Jazzschlager, tanzte den Charleston und nahm das Leben von der leichten Seite. Und so war auch die Haupteigenschaft des Leinwandflappers der optimistische Lebenswille, mit dem er «das Beste aus allem machen» wollte.
Nicht nur die Frauen, auch die Männer liebten den Flapper, im Film und in der Realität. Für sie war er bedworthy, wie das unverblümte Modewort damals lautete. Der Flapper wurde zum Startypus, der dem dominierenden Lebensgefühl der Zwanziger am genauesten entsprach. Aus diesem Grund läßt er sich für eine verhältnismäßig lange Zeitspanne, etwa von 1923 bis (in seinen Ausläufern) zum Ende der Dekade, nachweisen.
Die «Jazz-Ära», wie man diese Periode bald nannte, hatte aber noch eine weitere Dimension: Die «roaring twenties» waren eine äußerst fruchtbare Kunstperiode. In der Nachfolge von Schriftstellern wie T. S. Eliot und Ezra Pound, den ersten Wortführern einer neuen Dichtergeneration, verschärften junge Autoren aus den Jahrgängen der Kriegsteilnehmer, der Lost Generation, die Kritik an der amerikanischen Gesellschaft: Sinclair Lewis, John Dos Passos, allen voran aber F. Scott Fitzgerald (1896-1940) als Hauptvertreter der «verlorenen Generation» und Repräsentant des Jazz Age. Er griff den zeitgenössischen Jargon auf und erreichte wie kein anderer die plastische Darstellung der zwischen Lebensgier und Lebensekel zerrissenen städtischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Bezeichnenderweise hieß sein 1920 erschienener Erstlingsroman Diesseits des Paradieses; in ihm verfolgt ein junger, ehrgeiziger Held nach und nach seinen sozialen Aufstieg in der Konsumgesellschaft und sucht seinen persönlichen Weg zwischen Anpassung und Individualität.
Besonderen Einfluß hatten auf die Flappergeneration die trivialisier-ten und oft falsch ausgelegten Lehren Sigmund Freuds, die den pseudowissenschaftlichen Background für vor- und außerehelichen Sex lieferten, für freie Diskussionen über bislang verpönte Themen, für petting parties, Abenteuer im Kinodunkel oder in Autos – die nun die geschlossene Limousinenform hatten, was die phantasiebegabten Puritaner moralisch erschütterte. Man machte sich einen Spaß daraus, Tabus zu brechen und die Spießer zu schockieren und benannte Freud als Zeugen dafür, daß Triebunterdrückung schädlich sei.
Waren die Stars die neuen Götter und Göttinnen, so war eine Mitte der Zwanziger bereits Sechzigjährige deren Hohepriesterin: die britische Schriftstellerin Elinor Glyn (1864-1945), die sich mit seichten Romanen und Drehbüchern Hollywood erobert hatte. Sie sah ihre Mission darin, den amerikanischen Frauen mehr zu geben als Autos, Drinks und ein bißchen Zerstreuung. Sie wollte ihnen zeigen, wie man als Frau Liebe empfangen und schenken kann - im europäischen Stil. Recht geschickt verband Elinor Glyn das Bedürfnis nach althergebrachter Romantik mit der neuen freien Moral. Ihre Filme bevorzugten, ähnlich dem Groschenroman, als Milieu den untergehenden europäischen Adel, in dem sich je nach Wunsch tragische oder komische Liebesgeschichten abspulten. In the GREAT MOMENT (1920) etwa stellte sich heraus, daß Gloria Swanson als Tochter eines englischen Aristokraten in Wahrheit Zigeunerblut in den Adern hat, in BEYOND THE ROCKS (1922) verliebt sich die Swanson in einen englischen Lord (gespielt von Valentino), oder in THREE WEEKS (1924), einem der größten Erfolge Glyns, spielt Aileen Pringle eine junge Königin, die drei Wochen ihren Thron vernachlässigt, um mit einem englischen Aristokraten Liebesabenteuer zu erleben. RITZY erzählt 1925 von einer Amerikanerin in Paris, und in SIX DAYS (1923) muß ein Paar auf dem französischen Kriegsschauplatz erst in eine komplizierte Falle geraten, ehe es sich eine Woche lang die Warterei auf Rettung mit Liebesspielen versüßen darf. Zwei ihrer größten Triumphe waren IT und RED HAIR, beide unter der Regie von Clarence Badger und mit - von der Glyn persönlich ausgewählt und eingewiesen – Clara Bow.
Clara Bow wurde mit IT (1927) zum erfolgreichsten aller Leinwand-flapper. Mochte Fitzgerald auch Joan Crawford als Flapper bevorzugen, am beliebtesten und mitreißendsten war zweifelsohne die Bow. Mit ihrem roten Haarschopf, der in dem teilweise in Farbe gedrehten RED HAIR (1928) zur Geltung kam, ihrem spitzbübischen Gesicht, den flinken Augen und dem stets kußbereiten Mund wirkte sie wie ein sexueller Magnet. Zur selben Zeit konnte sie verdorben und unschuldig erscheinen, und ihre ansteckende Fröhlichkeit ließ selbst eingefleischte Moralapostel ihre Sünden vergessen. Ihre Naivität war sprichwörtlich: Sie galt als der einfältigste Star, den Hollywood je geschaffen hatte, Marilyn Monroe nicht ausgenommen. In ihren Filmen stellte die Bow den durch und durch amerikanischen Backfisch in durchschnittlichen, aber «modernen» Berufen dar: Maniküre, Platzanweiserin, Kellnerin, Zigarettenverkäuferin, Schwimmlehrerin und sogar Taxifahrerin. Allesamt Berufe, bei denen sie eine Menge männlicher Kunden hatte, von denen sie sich die interessantesten ohne Hemmungen herauspickte. Die Zuschauerinnen konnten sich mit ihr leicht identifizieren, da sie ähnliche Berufe ausübten oder ausüben wollten, In denen es freilich weitaus langweiliger zuging. Im Film konnte Clara, wie die anderen Leinwand-flapper auch, aus der Arbeitswelt in ein Traumleben aufsteigen, das nur noch aus Parties, Autos, Luxusvillen und Yachten zu bestehen schien. Nachdem sie it gedreht hatte, nannte alle Welt sie nur noch das It-girl, «das Mädchen mit dem gewissen Etwas». Der Produzent Adolph Zukor faßte ihr quirliges Wesen in einen einzigen Satz: «Sie tanzte, selbst wenn sich ihre Füße nicht bewegten.»
Clara Bow war aber nicht der erste Backfisch auf der Leinwand. Eine frühe Darstellerin dieses Typus war Marion Davies, wenn auch ihr Geliebter und Sponsor, der Pressezar William Randolph Hearst, stets versuchte, sie zu seriöseren Rollen zu überreden. Mehr Reputation erreichte Colleen Moore in Flapperfilmen mit solch bezeichnenden Titeln wie FLAMING YOUTH (1923), WE MODERNS (1925) oder 1928 gar SYNTHETIC SIN. Joan Crawford verkörperte den Flapper in einer etwas edleren, intelligenteren Spielart und wurde in der zweiten Hälfte der Zwanziger schnell zum Star. Sie war vor allem der Liebling der Frauen. Mil ihren gewellten dunklen Haaren, ihren hohen Wangenknochen und geschwungenen Augenbrauen und mit ihrer hochgewachsenen Figur strahlte sie Glamour aus, den die leicht pummelige Bow nicht zu bieten hatte. Sie galt nicht nur als attraktiv, sondern auch als schauspielerisch außerordentlich begabt; in späteren Jahren konnte sie sich eine (Solide Karriere als Charakterschauspielerin aufbauen.
Weitere beliebte Flapper waren Louise Brooks, die ihre eigentliche Rolle aber erst fand, nachdem sie die USA in Richtung Deutschland verlassen hatte, und Constance Talmadge, die dem Flapper die Dimension des Komischen bescherte, und natürlich Gloria Swanson, in jedem Filmtyp zuhause. Viele Darstellerinnen erschienen aber nur in ein paar dieser schnell abgedrehten Filme, die sehr direkt auf die aktuellen Modeströmungen reagierten, und waren ebenso schnell wieder vergessen: So leicht, wie man das Leben nahm, von einem Tag nur bis zum anderen denkend, so waren auch die Filme.
Die blind der Prosperität vertrauende Mehrheit der Bevölkerung wurde ab 1926 durch sich häufende wirtschaftliche Krisen erschüttert. Nicht nur ging es den Farmern und Textilarbeitern zunehmend schlecht, auch die bislang so stabilen Automobil- und Baumärkte begannen zu stagnieren. Der Versuch, die Absatzschwierigkeiten durch immer gewagtere Spekulationen aufzufangen, und das völlig überreizte Kreditwesen führten unaufhaltsam in eine Krise, die sich im Börsenkrach von 1929 entlud. Für Eingeweihte kam sie jedoch nicht so überraschend, wie man aus dem Schock, den sie für die Bevölkerung bedeutete, vermuten mochte.
Auch die Emanzipation (nicht nur) der Frau aus den Fesseln der viktorianischen Moral hatte im. letzten Drittel der Zwanziger mit einer kräftigen Gegenströmung zu kämpfen – die Phase des gesellschaftlichen Aufbruchs war vorerst zu Ende. Angesichts der wirtschaftlichen Rückschläge mußte der lebensfrohe Optimismus einer Rückbesinnung auf tradierte amerikanische Werte weichen und mit ihm die Toleranz gegenüber den Jugendlichen, den befreiten Frauen und den ethnischen Minderheiten.
In der Mondänen und im Flapper hatte sich das Streben nach Emanzipation – wenn auch auf grundsätzlich verschiedenen Wegen – manifestiert, doch nun konnten sich reaktionäre Kräfte breitmachen, welche die Frau wieder in ihre (scheinbar) angestammten Schranken verweisen wollten. Auch hatte sich der ursprünglich durchaus realitätsnahe Flapper immer mehr in eine eskapistische Traumwelt entfernt, deren schöner Schein vom Publikum nun nicht mehr als akzeptabel empfunden wurde. Man erwartete vom Film einen Blick auf die Wirklichkeit, doch gesehen durch eine Brille von Skeptizismus und Tradition. Die Frau erschien auf der Leinwand entweder als biedere Hausfrau, die ihre Pflichten kennt, oder, sollte sie doch einmal ausbrechen, als reumütige Sünderin.
Zwei Filme belegen diese Wende: Murnaus SUNRISE aus dem Jahr 1927 und der im folgenden Jahr von King Vidor gedrehte the CROWD. SUNRISE schildert das eheliche Glück eines jungen Paares, das zerbricht, als eine Frau aus der Stadt (!) den Ehemann verführt; der Mann'plant, seine Frau zu ermorden, doch bevor er die Tat ausüben kann, besinnt er sich und kehrt zu ihr zurück. Der Film, der den sich verschärfenden Stadt-Land-Gegensatz aufgreift, überrascht weniger durch den Plot als vielmehr dadurch, daß nicht die Verführerin der Star und die Identifikationsfigur ist - wie man es noch ein paar Jahre zuvor erwartet hätte –, sondern die treue Ehefrau, das unschuldige Opfer. Janet Gaynor wurde durch diese verblüffend brave Rolle über Nacht berühmt und sogar mit dem ersten Academy Award («Oscar») belohnt. Mit ähnlichen Rollen konnte sie sich bis in die frühen Dreißiger behaupten und bekam – auch dies ein Indikator der Rückbesinnung – den Titel America's sweetheart, den einst Mary Pickford innegehabt hatte. Wohl kaum hätte eine Gloria Swanson oder eine Clara Bow dieses Prädikat akzeptieren können.
THE CROWD zeigt einen Plot, dessen Parallele zu SUNRISE offensichtlich ist. Eleanor Boardman drehte diesen Film auf der Höhe ihrer Popularität; sie muß darin erkennen, daß ihr Mann nicht mehr an ihrer Seite leben mag und aus der Ehe auszubrechen sucht; doch nach einigen Schicksalsschlägen, unter denen vor allem sie zu leiden hat, finden die beiden wieder zusammen. Ein weiterer Film Boardmans findet eine andere Variante der hehren Frau: IN SHE GOES TO WAR, der im ersten Weltkrieg angesiedelt ist, leistet die Frau Kriegsdienst und gewinnt durch ihre Tapferkeit die Liebe eines hohen Offiziers.
Die Frau als reumütige und zuletzt bekehrte Sünderin zeigt Evelyn Brent in Josef von Sternbergs UNDERWORLD (1927), dem ersten Gangsterfilm überhaupt. Sie ist die Freundin eines Gangsters, die später – geläutert – mit einem ehrlichen Anwalt durchbrennt.
Die Studios sahen sich ab Mitte der Zwanziger in einer bedrohlichen Situation; die Einnahmen an der Kinokasse stagnierten oder konnten zumindest nicht mit den wachsenden Produktionskosten schritthalten, und das Radio, das (wie später das Fernsehen) Unterhaltung frei Haus lieferte, hielt die Leute vom Kinobesuch ab. Vor allem die Warner Brothers steckten in einer gefährlichen Krise und sahen als einzigen Ausweg nur die Flucht nach vorn. Sie forcierten die Entwicklung und die Einführung des Tonfilms, an dem man bereits mehr als ein Jahrzehnt bastelte. Andere Studios, die merkten, daß mit der «neuen» Erfindung viel Geld zu machen war, zogen nolens volens nach.
Mit DON JUAN (1926) dem ersten Film mit vollsynchronisiertem Tonstreifen (allerdings ohne Dialog), und the JAZZ SINGER (1927), der auch Dialog und Gesang hörbar machte, begann der Siegeszug des Tonfilms, der sich dann Ende 1929 allgemein durchgesetzt hatte - der erste «hundertprozentige Tonfilm» (wie die Werbung anpries) war wohl LIGHTS OF NEW YORK, der 1928 entstand. Dabei waren starke Widerstände zu überwinden: Die Kinobesitzer sträubten sich gegen die großen Investitionen in neue Vorführapparate, die Wirtschaftsexperten verwiesen auf die Erschwernis oder gar Unmöglichkeit des Exports in anderssprachige Länder, die gewichtigsten Theoretiker prophezeiten das Ende der Filmkunst und den Beginn einer bloßen Imitation des Theaters, und die Stars, deren Stimmen unausgebildet waren, bangten (zu Recht) um das Ende ihrer Karrieren – nur, das Publikum strömte begeistert in die Kinos, um die neue Attraktion zu bestaunen. Und natürlich hat das Publikum immer recht. Der Tonfilm war nicht aufzuhalten.
Damit entstand eine paradoxe Situation für den Stummfilm, der ja nicht über Nacht von der Bildfläche verschwand. Obwohl sein Ende 1927/28 abzusehen war, stand er gerade jetzt in seiner künstlerischen Blüte. Die Filme, die bereits in Produktion waren (sofern sie nicht auf Ton umgestellt oder nachträglich synchronisiert wurden), rückten aus dem Blickfeld kommerzieller Studiointeressen und konnten kompromißlos und visuell gewagt beendet werden. Der Kommerz hatte der Kunst das Feld des Stummfilms überlassen und sich ganz auf den Tonfilm gestürzt. Zudem schien die Weltuntergangsstimmung die mit dieser Kunst Befaßten zu inspirieren und deren letzte Kräfte zu mobilisieren.
Für die Stars war die Situation alles andere als rosig. Diejenigen, die erst mit der Wende zum Skeptizismus, etwa im Jahr 1927, wirklich bekannt geworden waren, konnten sich in aller Regel nur kurze Zeit ihres Status als Star erfreuen. Aber auch nur wenige der bereits seit langem etablierten Schauspieler und Schauspielerinnen überstanden die Umstellung zum Tonfilm. Während bislang primär das bestimmte, «typgerechte» Aussehen und pantomimische Fähigkeiten wichtig waren, gab im Tonfilm schauspielerisches und besonders stimmliches Vermögen den Ausschlag. Da die Tonaufnahmegeräte nicht die heutige Qualität besaßen und man noch keine Möglichkeit der nachträglichen Tonverbesserung kannte, klangen viele Stimmen blechern oder schrill. Clara Bow, die Gishs, Norma Talmadge und viele andere Stars scheiterten, da ihre Stimmen nicht ihrer Leinwanderscheinung oder, schlimmer noch, nicht den Vorstellungen ihrer bisherigen Anhänger entsprachen. Mancher ausländische Star wie Pola Negri war auch durch einen starken Akzent behindert und mußte in sein Heimatland zurückkehren. Nur eine kleine Schar von Akteuren hatte Stimmen, die wohlklingend und ausgebildet waren und mit ihrem Aussehen harmonisierten; Joan Crawford, Mary Astor und Greta Garbo gehörten dazu, sie zeigten auch im Tonfilm beachtliche Leistungen. Aber die neue Dekade verlangte nach neuen Göttern und Göttinnen – ausgebildete Theaterschauspieler waren gefragt, und es gab genug von ihnen, die bereit waren, den Traum von Hollywood zu träumen.
aus: Göttinnen der Leinwand. Die Filmstars der "wilden Zwanziger". Dortmund 1983/86: Harenberg. S. 9-30
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