Donnerstag, 25. September 1986

Privatmuseum Film

111 Meisterwerke des Kinos auf Video

5 „Ekel“

Roman Polanski: „Ekel“ (Großbritannien 1965). Drehbuch: Roman Polanski, Gérard Brach. Kamera: Gilbert Taylor. Musik: Chico Hamilton. Darsteller: Catherine Deneuve, Yvonne Furneaux, lan Hendry, John Fraser, Patrick Uymark, Helen Fraser, James Villiers. Länge: 102 Minuten.

Als Mitte 1964 der polnische Regisseur Roman Polanski und sein französischer Co-Autor Gerard Brach mit dem Drehbuch zu „Ekel“ begannen, sprach alles dafür, daß das Ergebnis nur Dutzendware werden könnte. Sie hatten ein Angebot zweier Londoner Filmfinanziers akzeptiert, die mit Sexstreifen reüssiert hatten und nun in das Horrorgenre wechseln wollten. Ganze 17 Tage brauchten die Autoren für ihre ziemlich gewalttätige Geschichte über ein psychisch gestörtes Mädchen, das aus sexuellem Ekel zwei Männer ermordet.
Der knapp 31jährige Polanski, der zwei Jahre zuvor seine Heimat Polen verlassen hatte und recht ärmlich in Paris lebte, war froh, überhaupt irgendeinen Spielfilm im Westen machen zu können, seinen - nach „Das Messer im Wasser“ - erst zweiten. Obendrein hofften Brach und Polanski, durch diese Brotarbeit der Realisierung ihres seit zwei Jahren auf Eis liegenden Lieblingsprojekts „Wenn Katelbach kommt“ endlich einen Schritt näher zu kommen.
Gleichsam wider die Erwartungen der Beteiligten wurde „Ekel“ zum perfekten Meisterwerk, das dem jungen Filmemacher schmeichelhafte Vergleiche mit Hitchcock und Bunuel einbrachte. Polanski inszenierte ohne Rücksicht auf Budget und Drehpläne und war mehrmals nahe daran, die Regie über den Film zu verlieren. Die Produzenten - später durch den finanziellen Erfolg von „Ekel“ mehr als besänftigt - fühlten sich von Polanski düpiert und meinten überaus treffend, sie kämen sich vor wie jemand, der „einen Mini-Cooper bestellt und dann einen Rolls-Royce geliefert bekommt“.
Die von Catherine Deneuve mit faszinierender Kühle und Zurückhaltung dargestellte 18jährige Belgierin Carol lebt zusammen mit ihrer einige Jahre älteren Schwester in einer kleinen Wohnung im Londoner West End. Carol empfindet die Erwachsenenwelt, die ihr beinahe ausschließlich sexuell geprägt erscheint, als fremd und verwirrend. Sexualität übt eine große Faszination auf sie aus, mehr aber noch fühlt sie sich von ihr angeekelt und zurückgestoßen. Ihrer geschärften Wahrnehmung erscheinen alltägliche Begebenheiten, nahezu bedeutungslose Anzüglichkeiten und Anspielungen wie brutale Angriffe auf ihre Person.
Als ihre Schwester sie für ein paar Tage allein läßt, nimmt Carols innerer Konflikt neurotische Züge an, während sie äußerlich nur noch apathisch wirkt. Sie erleidet schreckliche Halluzinationen, sieht die Wände um sich herum bersten, glaubt sich nachts von einem Eindringling vergewaltigt. Bei ihrer Arbeit in einem Schönheitssalon verletzt sie absichtlich eine Kundin, so daß man sie nach Hause schickt. Nun kann sie sich völlig in der Wohnung verkriechen und sich immer tiefer in die Unbekümmertheit ihrer Kindheit zurückversetzen.
Doch ihr Rückzug in eine Traumwelt, frei von Sexualität und Aggression, wird brutal gestört: Im Abstand von ein paar Tagen dringen in die Wohnung zwei Männer ein, die Carol mit allen Mitteln abwehrt - sie tötet sie. Ihr erstes Opfer ist ein aufdringlicher Verehrer, der sich nach ihrem Verbleib erkundigen will und die Wohnungstür einrennt; das zweite der Hauswirt, der wegen der Miete kommt und die Gelegenheit zu einem plumpen Annäherungsversuch nutzt. Als nach knapp zwei Wochen Carols Schwester zurückkehrt, entdeckt sie die Leichen, findet dann auch Carol - unter einem Bett versteckt, stumm und starr, aber glücklich lächelnd wie ein Kind.
Auf geniale Weise nutzt Polanski die Wohnung als Hauptschauplatz und als überzeugende Metapher gleichermaßen. Im Lauf der Handlung verändert sich die Wohnung ebensosehr wie der Seelenzustand der Heldin. Je verwirrter Carol wird, um so mehr verkommt das Apartment in Schmutz und Chaos, verändert sogar seine Dimensionen. Um dem Zuschauer Carols verzerrte Wahrnehmung nachvollziehbar zu machen, ließ Polanski die Wohnung im Studio so aufbauen, daß er die Ausmaße und ihr Aussehen nach Belieben verändern konnte. In den Alpträumen Carols wird der Flur zum bedrohlich engen Tunnel, durch dessen Wände zahllose Arme nach ihr greifen, und das Badezimmer nimmt die Weite eines Operationssaals an. Mauern bekommen Risse oder werden weich wie Lehm.
Schließlich wird die Wohnung, zunächst Carols - brüchiges - Refugium vor der bedrohlichen Außenwelt, metaphorisch mit ihrem Körper gleichgesetzt: ein Eindringen in die Wohnung ist ein Eindringen in Carol selbst. Ihre heftige Reaktion wird dadurch verständlicher; Carols Morde sind Akte der Notwehr. Immer deutlicher  scheint Carol, mehr als Täterin, Opfer zu sein - Opfer männlicher Aggression. Mit seinen überlegt eingesetzten filmsprachlichen Mitteln und seinem makellosen
dramaturgischen Aufbau vermag „Ekel“, scheinbar mühelos, den Zuschauer in die verrückte Sichtweise der Heldin zu ziehen.
Nur scheinbar dazu im Widerspruch steht die neutrale Distanz, die der Filmemacher seiner Figur gegenüber beibehält. Polanski ist weder darauf aus, Carol als Ungeheuer zu diffamieren, noch Mitleid für sie zu erheischen. Er erklärt nichts, liefert keine Gründe für die neurotische Entwicklung, weist niemandem Schuld zu - auch nicht der von ihm mit entlarvender Präzision dargestellten Gesellschaft. Polanski beschreibt lediglich einen möglichen Einzelfall, zu dem es unter den gegebenen Verhältnissen kommen kann, aber nicht muß - Stellung dazu zu beziehen, überläßt er dem Zuschauer selbst.

Paul Werner

Paul Werner ist Autor mehrerer Bücher über Filmthemen (u.a. eine Polanski-Monographie, über den Film noir, zur Geschichte des Hollywood-Stars) und lebt als Filmpublizist in Hamburg.

in Rheinischer Merkur / Christ und Welt Nr. 40 - 26. September 1986