Mittwoch, 2. Februar 1983

Göttinnen der Leinwand


Vorwort 

Göttliche und menschliche Eigenschaften in einer Figur miteinander zu verknüpfen, war für die Griechen der Antike kein Widerspruch. Ihre Mythen berichteten von Göttern und Göttinnen, die unsterblich waren, die Fähigkeit besaßen, sich in allerlei Gestalten zu verwandeln und dennoch Zorn und Liebe kannten, Eitelkeit und Eifersucht, die schön waren und klug oder schwach und unvollkommen.
Die Stars des Kinos erscheinen uns wie eine moderne Ausgabe der antiken Gottheiten: auch sie vereinen übernatürliche Schönheit, Faszi nation und Unwirklichkeit mit alltäglichen menschlichen Schwächen und Stärken, und ihre Existenz vermittelt sich ebenso über Legenden und Mythen. Das Leben der antiken wie der heutigen Götter spielt sich in einem bekannten und doch unerreichbaren Ort ab, heiße er nun Olymp oder Hollywood.
Dies gilt besonders in den zwanziger Jahren und vor allem für den weiblichen Filmstar. In jenen Jahren zwischen dem Ende des Weltkriegs und dem Siegeszug des Tonfilms stand die soeben erst den Kinderschuhen entwachsene Kunst des Stummfilms in ihrer artistischen wie kommerziellen Blüte. Leinwandrollen und Lebensstil verschmolzen bei den weiblichen Filmstars zu einem einheitlichen Image, durch das sie ihrem Publikum ebenso vertraut wie der Alltäglichkeit enthoben waren.
Nicht wirklich schienen sie zu leben, sondern nur vermittelt durch ihre Filme oder durch die nicht weniger sorgfältig inszenierten, zahllosen Legenden der Fan- und Klatschpresse. Und sie waren unsterblich — solange ihre Filme in den Kinos gezeigt wurden und ihr letzter Fan sich ihrer erinnerte. Daß sie stumm waren und bloß durch Gesten, Blicke und Mienenspiel zu uns sprachen, ließ sie nur noch weniger wie Menschen denn wie Göttinnen erscheinen — wie Göttinnen der Leinwand.

Der vorliegende Band porträtiert 46 weibliche Filmstars, deren Karrieren in den zwanziger Jahren den (oder einen) Höhepunkt erreichten, die bestimmend für die verschiedenen Formen der Filme dieser Periode waren und Einfluß hatten auf die Moden und Verhaltensweisen ihrer Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen. Der einführende Essay setzt die in Kurzbiographien und Fotos dargestellten Stars in bezug zur Geschichte des Films, die sich einmal mehr auch als Sozial- und politische Geschichte erweist.
Wenn dies auch nicht der Ort ist, das Phänomen des Starkults näher zu beleuchten — der bereits im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts entstand, in den Zwanzigern aber ins Zentrum der Geschichte des narrativen Films rückte — so sei dennoch darauf verwiesen, daß es für die Produktion und die Konsumtion nicht nur des US-amerikanischen Kinos maßgebend ist, sondern darüber hinaus auch in verschiedenen anderen Ländern auftauchte, wenn auch nicht derart ausgeprägt und zeitlich durchgängig wie in Hollywood.
So ist die Entwicklung des deutschen Films unter diesem Aspekt in den zwanziger Jahren der des US-Films durchaus vergleichbar. Der deutsche Film dieser Dekade war obendrein der einzige wirtschaftlich wie künstlerisch ernstzunehmende Konkurrent des Hollywood-Kinos, und es ergaben sich rege Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Filmländern, wie sich nicht zuletzt im Import deutscher Künstler in die USA und vice versa widerspiegelt.
Ein Abschnitt des Essays widmet sich deshalb dem deutschen Film - auch sind einige deutsche Stars aufgenommen -, obwohl sonst das US-Kino ganz im Zentrum steht.