Donnerstag, 5. März 1987

DIE 100 FILME - "Ekel" von Roman Polanski

Folge 30 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SEX UND GEWALT
EKEL
(Repulsion) England, 1965 Regie: Roman Polanski Mit Catherine Deneuve, Ian Hendry, Yvonne Furneaux

Von Paul Werner. Der Autor ist Verfasser einer Polanski-Monographie und lebt als Journalist in Hamburg

Der kühlen Blonden mit dem Unschuldsblick erscheint die Welt voll von Sex. Wie gebannt lauscht sie dem Liebesgestöhn, das nächtens aus dem Zimmer ihrer Schwester dringt. Doch mehr noch widert es sie an. Und die Neugier, mit der sie am Morgen danach die zerknüllten Laken betrachtet, schlägt um in Brechreiz und Ekel.

Allgegenwärtig ist ihr die sexuelle Aggression der Männer. Die geilen Blicke auf der Straße, die anzüglichen Bemerkungen und bewundernden Pfiffe, ein Kniff in den Po oder der flüchtige Kuß eines Verehrers. Das übliche Spiel, mit dem Männer Frauen zu imponieren glauben.

Für die 18jährige Belgierin, die sich mit ihrer älteren Schwester in London ein Apartment teilt, wird daraus blutiger Ernst. Sex und Gewalt, für Carol ist das eins. Am Ende liegen die Leichen zweier Männer in ihrer Wohnung, und sie selbst findet man stocksteif unter dem Bett-friedlich entrückt in einen milden Wahn und die Träume ihrer Kindheit.

Mit kühler Objektivität, ohne Abscheu oder Mitleid, zeichnet Roman Polanski diese neurotische Entwicklung nach. Er brachte dabei das Kunststück fertig, daß Cineasten bei »Ekel« von einem meisterhaften Psychothriller schwärmten, Frauen sich verstanden fühlten und Seelendoktoren die Authentizität dieser klinischen Fallstudie rühmten. Sie mutmaßten gar, der 31 jährige polnische Jungfilmer und sein französischer Co-Autor hätten Psychologie studiert oder sich zumindest fachlich beraten lassen.

Nichts dergleichen. Beratung und Grundidee hatten sie sich bei einer sexuell verklemmten Freundin geholt, deren Probleme sie in einer 18tägigen Drehbuchsession konsequent weiterspannen. Zum Erfolg fehlte dann nur noch eine unbekannte Darstellerin mit Starappeal: Catherine Deneuve, eine Blondine von somnambulem Eros und feengleicher Schönheit. Ein Engel mit leicht angeschmutztem Heiligenschein.

Vor der sexgeprägten Chauvi-Welt verbarrikadiert sich Carol - für ein paar Tage alleingelassen - in ihrer Wohnung. Hier könnte sie glücklich sein und unbeschwert wie ein Kind. Gäbe es da nicht die Alpträume und Halluzinationen, die sie quälen: Die berstenden Wände, die Gestalt im Spiegel, der Fremde, der nachts in ihr Zimmer dringt und sie vergewaltigt.

Sanft und unentrinnbar - das ist das Raffinierte an dem Psychodrama - wird der Zuschauer in die verrückte Sichtweise der Figur, in die Landschaft ihrer Seele hineingezogen. Carols Realität - das, was sie glaubt zu sehen - verschmilzt mit der des Kinobesuchers. Durch ihre Augen sehen wir, wie das Badezimmer die Ausmaße eines Seziersaals annimmt. Oder wie der Flur zum Tunnel wird, durch dessen Mauern Arme und Hände nach ihr grapschen.

Das Apartment gibt eine grandiose Metapher ab für Carols Innenwelt. Je verwirrter ihr Seelenzustand wird, um so mehr verkommt die Wohnung in Chaos und Schmutz. Und ein Eindringen in diese Fluchtburg ist ein Eindringen in Carol selbst. Deshalb müssen zwei Männer sterben: der ungeduldige Verehrer, der die Tür einrennt, und der Hauswirt, der von Carol nicht nur die Miete kassieren will.

Nichts wirkt verstaubt an dem über 20 Jahre alten Film, der sich nie mühte, hip und trendy zu sein. Die Bilder und Töne, der sparsame Dialog sind frisch wie einst, die Symbole immer noch bezwingend. Mit der Präzision eines Zeitzünders lassen die visuellen und akustischen Schocks das Publikum zusammenzucken, und Chico Hamiltons Jazztöne schrillen nervend wie eh und je. »Ekel« war Polanskis erster Film im Westen und der Beginn einer Weltkarriere, die den Polen in die Höhen des Meisterwerks »Chinatown« und die Niederungen des mißglückten »Piraten«-Films führte. Doch so düster wie in »Ekel« ist es in Polanskis Werken später nie wieder zugegangen - nur in seinem Leben.


Roman Polanski, geboren 1933, machte sich mit düsteren Filmen wie »Ekel« (rechts ein Szenenphoto mit Catherine Deneuve) einen Namen in Europa, bevor er 1968 »Rosemaries Baby« in Hollywood drehte. Nach Erfolgsfilmen wie »Chinatown« mußte er Ende der siebziger Jahre aus persönlichen Gründen die USA verlassen

STERN-TV  15