Mittwoch, 13. April 2005

Film noir und Neo-Noir (5. Aufl.)


VORBEMERKUNG

In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends erweist sich der Neo-Noir als lebendiger und für das amerikanische Kino wichtiger denn je. Inzwischen ist er gut vierzig Jahre alt; damit hat er die Zeitspanne des Film noir, dessen Erbe und Nachfolge er in den 1960ern antrat, mehr als verdoppelt, und auch den klassischen Kanon von knapp zweihundert Filmen hat er längst übertroffen. Und noch immer kein Ende in Sicht. Für völlig unangreifbar sollte man den Neo-Noir, dessen verschlungene Entwicklung der zweite Teil dieses Buches nachzuzeichnen versucht, dennoch nicht halten. Gefahren liegen in der exzessiven Abnutzung seines Stils, der von allen Seiten kannibalisiert wird, in der Erosion seiner Grenzen zu anderen Genres und in der Inflation des Begriffs; ein bisschen bedroht ist er auch durch ein paar ungeduldige Zeitgenossen, die schon auf einen „Post-Neo-Noir" oder „Neo-Neo-Noir" lauern. Ganz so weit ist es allerdings noch nicht, und bekanntlich leben Totgesagte länger.
In den fünf Jahren seit der vorigen Ausgabe dieses Bandes hat sich die Bezeichnung „Neo-Noir" in den USA und, etwas zögerlicher, auch in Deutschland durchgesetzt. Andere terminologische Versuche gingen weniger glücklich aus; sie erwiesen sich als zu umständlich oder zu nichtssagend. Kritiker, Filmtheoretiker und – das ist entscheidend – die Zuschauer haben in diesem knappen Begriff offenbar ihre Seh- und Höreindrücke, ihr Gespür für das Neue und ihr Wissen um die Tradition als angemessen komprimiert empfunden. Er ist einigermaßen assoziativ und einprägsam – und zugleich unscharf genug, um auch Weiterentwicklungen integrieren zu können. Schließlich, wie sollte es anders sein, haben sich auch die Macher dieser Filme auf dieses Markenzeichen verständigt.
Das Verblüffende ist ohnehin nicht das noch zunehmende Interesse am Neo-Noir, sondern das nicht nachlassende am Film noir. Aus der Begeisterung für diese schwarzweißen Klassiker von vor mehr als einem halben Jahrhundert erwächst zudem eine klare Bewusstheit dafür, dass aktuelle Werke wie MEMENTO, THE MAN WHO WASN'T THERE, COLLATERAL und selbst die MATRIX-Trilogie irgendwas (eine ganze Menge sogar) damit zu tun haben; dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Filmen von heute und dem, was einst eine Schar von Migranten aus dem alten Europa in die Neue Welt schleppte. Auch aus diesem Grund wird nicht nur über den Neo-Noir, sondern ebenso über den Film noir noch immer viel publiziert. Nach wie vor ist er ein wunderbar obskures Objekt der Neugierde für allerlei akademischen oder cineastischen Diskurs. Umso auffälliger wirkt diese lebhafte Auseinandersetzung im Vergleich etwa zu der kargen Beschäftigung mit der Nouvelle Vague oder dem Jungen (später: Neuen) Deutschen Film, obwohl diese um Jahrzehnte jünger sind.
Der Zugriff auf die Films noirs selbst ist dabei heute einfacher als je zuvor. In immer neuen DVD-Editionen erscheinen die wichtigsten der klassischen Filme, zum Teil in sorgfältig rekonstruierten Fassungen. Beispielsweise Edgar Ulmers DETOUR von 1945, dessen 35-mm-Originalnegativ aufgespürt und überspielt wurde und der seit seiner Uraufführung wohl nicht mehr so frisch zu sehen und zu hören war. Alleine von der Menge des Angebots her ist ein Eintauchen in den Film noir heute leichter als selbst zu den Zeiten, da die Filme in den USA ihre Kinopremieren hatten oder, mit Verzögerung, nach Frankreich und in andere europäische Länder expediert wurden.
Natürlich kann man die Neo-Noirs des 21. Jahrhunderts auch ohne eine Ahnung von Film noir genießen oder „verstehen". Wenn Brian De Palma seinen FEMME FATALE mit einer Szene aus einem offensichtlich älteren Schwarzweißfilm beginnt, in der eine Frau auf ihren Liebhaber schießt, oder wenn David Lynch in MULHOLLAND DRIVE eine Frau, die ihren Namen nicht mehr weiß, sich den einer Schauspielerin auf einem Filmplakat ausborgen lässt – so muss man nicht wissen, wieso dieser Ausschnitt, wieso dieses Plakat und dieser Name. Aber wenn man's weiß, wenn man die Darstellerinnen und den Darsteller kennt und den Film zu dieser Szene und den zu diesem Plakat und überhaupt all die anderen dieses Stils und aus dieser Zeit dazu: dann wird, mit ziemlicher Sicherheit, das Vergnügen beim Anschauen des Lynch oder des De Palma größer sein. Und ob einen die „verdrehte" Erzählweise von MEMENTO nun begeistert, langweilt oder lediglich verwirrt: es kann nicht schaden, den Vergleich mit den Rückblenden und Off-Erzählungen des Film noir ziehen zu können.
Solange also Filmemacher von heute sich am Film noir abarbeiten, sich bewusst oder unvermeidbar in seine Tradition stellen, und solange Zuschauer Freude daran haben, die Spuren des Alten im Neuen zu entdecken, erscheint es auch sinnvoll. Film noir und Neo-Noir in einem Buch zu vereinen und eine Brücke zwischen damals und heute zu schlagen. Und gelegentlich noch einen Film des Jahres 2005 als möglichen Reflex auf einen anderen von 1950 zu begreifen.

Gewidmet ist das Buch dem Andenken an den wunderbaren (Kriminal)Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Ulf Miehe, der, im Sommer 1989, viel zu früh starb. Mit Dank für seinen behutsamen, kritischen Rat.


Paul Werner
im April 2005

Weiterführende Links und Infos zu Film noir, Neo-Noir und zu diesem Buch auf: neo-noir.de