Polanski – Genie auf der Flucht
Laudatio zur Eröffnung der Roman-Polanski-Retrospektive „Polański Komplex“ im Kino Babylon Berlin anlässlich des 75. Geburtstags des Regisseurs.
Gehalten am 23.08.2008 von Paul Werner
Auch ich darf Sie, meine Damen und Herren, zum Auftakt der Roman-Polanski-Retrospektive ganz herzlich begrüßen. Der Anlass ist ebenso unglaublich wie wahr: Das ewig jung gebliebene Enfant terrible des internationalen Kinos hat überraschend, völlig unbemerkt, ja quasi über Nacht ein geradezu biblisches Alter erreicht. Roman Polanski ist vor fünf Tagen 75 Jahre alt geworden.
Nicht nur wegen des ungewöhnlichen Regisseurs, auch sonst ist die Werkschau „Polański Komplex“ hier im Babylon eine Besonderheit: Sie ist komplett. Dem Veranstalter Timothy Grossman ist gemeinsam mit dem Polnischen Institut Berlin gelungen, sämtliche Regiearbeiten Polanskis versammeln zu können. Neben den Spielfilmen auch die Kurzfilme aus seiner Studentenzeit, mit denen er früh auf sich aufmerksam machen konnte. Polanskis Beiträge zu Gemeinschaftsfilmen mit anderen Regisseuren und auch sein einziger Dokumentarfilm werden hier zu sehen sein.
Ein bisschen erleichtert hat das Ganze vielleicht, dass Polanski eher wenige Filme gedreht hat. In der Branche als Perfektionist gefürchtet und als kompromisslos verschrien, konnte er in rund 50 Berufsjahren gerade mal 17 lange Kinofilme realisieren. Doch was seinem Œuvre vielleicht an Zahl mangelt, macht es mit einer beeindruckenden Vielfalt mehr als wett. Jeder Film ein Ereignis, jeder Film ein Unikat; jeder eine aufregende kinematografische Entdeckungsreise in unbekannte Gefilde. Für die Zuschauer ebenso wie für den Macher selbst.
Der Aufbruch, das Neue fasziniert Polanski, nicht ein Erfolgsrezept. Wie ein unerschütterlicher, wenngleich flüchtiger Liebhaber reizt ihn das Kino in all seinen Facetten. „Ich mache einfach das“, erläuterte Polanski einmal sein minimalistisches Credo, „worauf ich gerade Lust habe. Um ein einheitliches Image mache ich mir keine Gedanken.“
So finden sich neben klaustrophobischen Drei-Personen-Thrillern opulente Verfilmungen klassischer Literaturvorlagen. Nach einer beschwingten Komödie steht ihm vielleicht der Sinn nach einem nervenaufreibenden Horrorfilm. Auf einen klassischen Krimi folgt eine mäandernde Amour-fou-Geschichte.
Doch es gibt Gemeinsamkeiten: Die handwerkliche Genauigkeit. Die Präzision, mit der er auf die Gefühle der Zuschauern zielt. Die ironisch-abstrusen Kapriolen des Schicksals. Der einzigartige Polanski-Touch gespeist aus Angst, Entfremdung und Wahn. Und über allem ragt ein gemeinsames, ein weltumspannendes Thema: Der schier aussichtslose Überlebenskampf des Einzelnen in einer feindlichen, lebensbedrohlichen Gesellschaft.
Die Welt ist ein Dschungel, behauptet Polanski. Um darin zu überstehen, gibt es nur Angriff und Flucht.
Wen wundert es da, dass auch seine Vita wirkt, wie aus einem seiner Filme entnommen. Er, der Grenzgänger zwischen Ost und West, zwischen Europa und Amerika, ist überall zu Hause - und war zugleich immer ein wenig fremd und heimatlos. Und so manches Mal blieb ihm selbst nur die Flucht.
Am 18. August des Jahres 1933 kommt Polanski zur Welt. Nicht in Polen – in Paris. Der Vater ist ein polnischer Jude, seine Mutter hat einen russisch-katholisch-jüdischen Hintergrund. Polanski ist keine vier Jahre alt, als die Familie vor der in Frankreich aufkommenden Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus flüchtet – in die vermeintliche sichere Heimat, nach Polen zurück.
Eine fatale Entscheidung. Zwei Jahre später marschieren deutsche Soldaten in Polen ein und treiben die Juden zusammen. Einen Teil seiner Kindheit muss Polanski im Krakauer Ghetto zubringen, kann schließlich fliehen und bei Bauern unterschlüpfen. Immer wieder ist sein Leben in höchster Gefahr. Erst nach Kriegsende erfährt er vom Schicksal seiner Familie. Der Vater überlebt das KZ Mauthausen, die Mutter kommt in Auschwitz um.
Ein Zuhause fand Polanski im Kino. Eine Heimat wurde später die renommierte Filmhochschule in Łódź. Doch den vorherrschenden sozialistischen Realismus empfand Polanski mehr und mehr als Gefängnis. Seine Sehnsucht galt dem amerikanischen Kino, sein Traum hieß Hollywood.
Mit dem furiosen Das Messer im Wasser im Gepäck, seinem in Polen nicht unumstrittenen, scheinbar unpolitischen Abschlussfilm von der Filmhochschule, machte er sich auf den Weg nach Westen. Es waren nicht alleine die Aussichten, hier die Filme seiner Träume machen zu können. Es war auch der andere, der freiere Lebensstil, der ihn magisch anzog.
Später bezeichnete Polanski diese Phase, um die Mitte der 1960er, als die unbeschwerteste Zeit seines Lebens. Wahrscheinlich die einzige unbeschwerte überhaupt. Man erkannte rasch sein Ausnahmetalent, sein polnisches Erstlingswerk wurde mit einer Oscar-Nominierung geadelt, es folgten Regieangebote. In rascher Folge konnte Polanski drei Filme in England drehen: Ekel, Katelbach und Tanz der Vampire. Danach winkte schon Hollywood und Rosemaries Baby. Der Erfolg kam über ihn wie ein Rausch.
Polanski ging seinen eigenen Weg. So wie er sich in Polen den thematischen Vorgaben der Auseinandersetzung mit dem Zweitem Weltkrieg und der deutschen Besatzung verweigert hatte, so wurde er in Frankreich kein Anhänger der dominierenden Nouvelle Vague und später in den USA nicht Teil des New Hollywood. Er war und blieb ein sehr eigenwilliger Regisseur, oft auch sein eigener Drehbuchautor oder Coautor und immer wieder Darsteller in seinen Filmen – vom winzigen Gastauftritt bis zur Hauptrolle.
In diesen Jahren, als Filmemacher eher in Fachzeitschriften zu Hause waren als in den Klatschspalten, wurde Polanski zu einem der sichtbarsten Regisseure überhaupt. In Windeseile stieg der koboldhaft kleine Pole mit dem Riesenego zum Liebling der Boulevardpresse auf. Man sah Polanski beim Skilaufen in der Schweiz. Man sah ihn umringt von Schönheiten in Nachtklubs von Monte Carlo bis Paris. Anfang 1968 gingen die Fotos von der Märchenhochzeit mit Sharon Tate, der zauberhaften Hauptdarstellerin von Tanz der Vampire von London aus um die ganze Welt. Der Filmemacher als Superstar.
Über dem Glitter und dem Hype lauerten schon die Schatten. Zwei einschneidende, geradezu traumatische Ereignisse, beide auf amerikanischem Boden, machten den Berühmten und Bewunderten wieder zu einem Getriebenen. Polanski war wieder auf der Flucht.
August 1969, kurz vor seinem 36sten Geburtstag: Polanskis hochschwangere Frau Sharon Tate und ein paar Freunde werden in Los Angeles bestialisch ermordet. Die Täter sind Mitglieder einer satanischen Sekte. Sofort zieht die Sensationspresse eine verführerische Parallele. Ging es nicht auch kurz zuvor bei Rosemaries Baby, Polanskis triumphalem US-Debüt, um den Teufel und um eine Schwangerschaft? Polanski ist fassungslos. Die Opfer werden von der Presse zu Mitschuldigen gemacht. Voller Wut und Trauer flieht er nach Europa, zieht sich zurück.
Ein paar Jahre später wagte Polanski einen neuen Aufbruch nach Hollywood. Mit Chinatown drehte er den amerikanischsten seiner Filme – und setzt gegen alle Widerstände einen geradezu europäisch-existenzialistischen Schluss der Detektivgeschichte durch. Ein Glücksfall: Chinatown wurde zum stilbildenden Klassiker des Neo-Film-noir und läutete die Renaissance eines ganzen Genres ein. Doch erneut endete Polanskis Versuch, heimisch zu werden in Amerika, mit einer Flucht.
1977 wird Polanski in Los Angeles wegen Verführung einer Minderjährigen verhaftet. Anderthalb Monate verbringt er im Gefängnis, kommt wieder frei und setzt sich am Vorabend des Prozesses bei Nacht und Nebel nach Frankreich ab. Die französische Staatsbürgerschaft schützt ihn vor der Auslieferung.
Heute, dreißig Jahre später, hat ihm das Opfer von einst öffentlich verziehen, Doch die amerikanische Justiz bleibt unerbittlich. Amerikanischer Boden ist nach wie vor für Polanski tabu. Ihm droht die sofortige Verhaftung. So geriet die Stunde seines größten Triumphes zugleich zu einem Moment der Schmach: Für Der Pianist erhielt er 2003 den Regie-Oscar – konnte es aber nicht riskieren, ihn persönlich in Empfang zu nehmen.
Schon immer hatte sich Polanski mit Händen und Füßen gegen Interpretationen und Analysen seiner Werke gewehrt. „Wenn ich eine Botschaft hätte“, lautete ein geflügeltes Polanski-Wort jener frühen Jahre, „würde ich sie mit der Post schicken – aber nicht in einen Film packen.“ Nun, nach dem doppelten amerikanischen Trauma und der Hetzjagd der Boulevardpresse lagen die Nerven blank.
Wie sehr nach Jahrzehnten noch, konnte ich bei meiner eigenen Begegnung mit Polanski hautnah erfahren. Ein Kollege und ich hatten mit Polanski 1993 ein Interview für das Magazin Tempo verabredet. Der Anlass war die Deutschlandpremiere von Bitter Moon, eine Amour-fou-Geschichte um einen Mann in mittleren Jahren und seine deutliche jüngere Frau. Die zunehmende Tristesse ihres Liebeslebens versucht das Paar mit ausgefallenen Sexpraktiken zu bekämpfen.
Der Film war heftig umstritten, die Reaktionen in Frankreich und England gemischt. In der weiblichen Hauptrolle: Polanskis deutlich jüngere Ehefrau Emmanuelle Seigner.
Im Hamburger Atlantic-Hotel hatte sich ein ungeheurer Pulk Journalisten und Fernseh-Teams aufgebaut. Mitten darin Polanski und seine Ehefrau. Polanski wirkte angespannt, man sah ihm an, dass ihm das Ganze ungefähr soviel Spaß bereitete wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Das anschließend in einer Hotelsuite stattfindende Interview wollte mein Kollege offenbar mit einem Paukenschlag eröffnen. Gegen jede Absprache knallte er Polanski ein paar wüste Klatschgeschichten um die Ohren, um dann nahtlos auf die beiden amerikanischen Reizthemen zu wechseln.
Selten habe ich bei einem Menschen einen derart schnellen Stimmungsumschwung erlebt wie bei Polanski: Von schlecht gelaunt auf totensauer in zwei Sekunden. Im Geiste sah ich uns beide Journalisten schon, die neugierigen Schnüffler, wie Jack Nicholson in Chinatown, für die nächsten Wochen mit einem Pflaster auf der Nase herumlaufen. Polanski ist zwar klein, aber durchtrainiert wie ein Kampfsportler.
Das Interview war nicht mehr zu retten. Polanski wurde immer einsilbiger, gab nur noch Standardantworten. Und es kam, wie es kommen musste: Unser Text wurde redaktionell zusammengestaucht, das noch mühsam rausgeleierte gemeinsame Foto mit Polanski verschwand mysteriöserweise aus der Kamera des Fotografen. Polanskis Erotical floppte gehörig, den Kollegen habe ich nie wiedergesehen – und die Zeitgeistpostille Tempo wurde bald darauf vom Zeitgeist überholt.
Zwar kann Polanski auch heute noch Interviews abrupt beenden oder – wie letztes Jahr auf dem Festival in Cannes – wütend aus einer gemeinsamen Pressekonferenz mit 30 Regiekollegen stapfen. Doch der Zorn der frühen Jahre scheint einer gewissen Altersweisheit Platz gemacht zu haben. Für Scharmützel mit der Presse ist Polanski mittlerweile die Zeit zu schade.
Der einst rastlose Wanderer ist angekommen, Roman der Schreckliche zum Familien-Róman gezähmt. Seit fast zwanzig Jahren mit Emmanuelle Seigner verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder, zählen für ihn die Familie und die Arbeit. Er, der ursprünglich immer Schauspieler werden wollte, ist inzwischen ein gefragter Darsteller auch für andere Regisseure.
Und er steckt immer noch voller Pläne für eigene Filme. Anfang nächsten Jahres sollen die Dreharbeiten zu Ghost nach einem Bestseller des Briten Robert Harris beginnen. Pierce Brosnan und Ewan McGregor spielen die Hauptrollen in dieser bitterbösen Abrechnung mit der Ära Tony Blair.
Vor ein paar Jahren erst, mit fast schon Siebzig, hat sich Polanski dann doch noch an eine filmische Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und den Schrecken seiner Kindheit gewagt. Sein eigenes Leben wollte er nie verfilmen. Dann aber stieß er auf die Erinnerungen des jüdischen polnischen Pianisten Władysław Szpilman über die Zeit von 1939 bis 1945. Szpilmans Leidensweg, sein Überlebenskampf unter deutscher Besatzung, Bombenkrieg und Ghetto darf man getrost auch als Schlüssel zu Polanskis Biografie verstehen. Der Pianist wurde Polanskis persönlichster Film und einer seiner größten Erfolge und weltweit mit Preisen und Ehrungen geradezu überhäuft.
Auch Polanskis bislang letztes Werk Oliver Twist bedeutete ihm natürlich mehr als nur eine besonders gefühlvolle, besonders komische und gelegentlich drastische Verfilmung des Charles-Dickens-Klassikers. Die schicksalhaften Abenteuer des Waisenjungen im England des frühen 19. Jahrhunderts erinnern zu deutlich an einen anderen kleinen Jungen - in Polen rund hundert Jahre später.
„Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt“, räumte Polanski mit seltener Großmütigkeit unlängst in einem Interview dazu ein, „sich ohne Schuhe blutige Füße zu laufen oder eine vertrocknete Brotrinde zu essen, die eigentlich für ein Tier bestimmt war. Vor allem aber, wie es ist, Tag für Tag seine Eltern zu vermissen.“
Zum Schluss bleibt mir noch, Polanski, aber auch uns weitere faszinierende Polanski-Filme zu wünschen - und Ihnen jetzt viel Vergnügen mit Chinatown. Und achten Sie in dem Film auf den gefährlichen kleinen Mann mit dem weißen Hut.
Dazu Interview mit Kulturradio rbb
Video über Polanski und Chinatown