Samstag, 23. August 2008

Laudatio zur Eröffnung der Roman-Polanski-Retrospektive Berlin 23.08.2008

Polanski – Genie auf der Flucht

Laudatio zur Eröffnung der Roman-Polanski-Retrospektive „Polański Komplex“ im Kino Babylon Berlin anlässlich des 75. Geburtstags des Regisseurs.

Gehalten am 23.08.2008 von Paul Werner

Auch ich darf Sie, meine Damen und Herren, zum Auftakt der Roman-Polanski-Retrospektive ganz herzlich begrüßen. Der Anlass ist ebenso unglaublich wie wahr: Das ewig jung gebliebene Enfant terrible des internationalen Kinos hat überraschend, völlig unbemerkt, ja quasi über Nacht ein geradezu biblisches Alter erreicht. Roman Polanski ist vor fünf Tagen 75 Jahre alt geworden.

Nicht nur wegen des ungewöhnlichen Regisseurs, auch sonst ist die Werkschau „Polański Komplex“ hier im Babylon eine Besonderheit: Sie ist komplett. Dem Veranstalter Timothy Grossman ist gemeinsam mit dem Polnischen Institut Berlin gelungen, sämtliche Regiearbeiten Polanskis versammeln zu können. Neben den Spielfilmen auch die Kurzfilme aus seiner Studentenzeit, mit denen er früh auf sich aufmerksam machen konnte. Polanskis Beiträge zu Gemeinschaftsfilmen mit anderen Regisseuren und auch sein einziger Dokumentarfilm werden hier zu sehen sein.

Ein bisschen erleichtert hat das Ganze vielleicht, dass Polanski eher wenige Filme gedreht hat. In der Branche als Perfektionist gefürchtet und als kompromisslos verschrien, konnte er in rund 50 Berufsjahren gerade mal 17 lange Kinofilme realisieren. Doch was seinem Œuvre vielleicht an Zahl mangelt, macht es mit einer beeindruckenden Vielfalt mehr als wett. Jeder Film ein Ereignis, jeder Film ein Unikat; jeder eine aufregende kinematografische Entdeckungsreise in unbekannte Gefilde. Für die Zuschauer ebenso wie für den Macher selbst.

Der Aufbruch, das Neue fasziniert Polanski, nicht ein Erfolgsrezept. Wie ein unerschütterlicher, wenngleich flüchtiger Liebhaber reizt ihn das Kino in all seinen Facetten. „Ich mache einfach das“, erläuterte Polanski einmal sein minimalistisches Credo, „worauf ich gerade Lust habe. Um ein einheitliches Image mache ich mir keine Gedanken.“

So finden sich neben klaustrophobischen Drei-Personen-Thrillern opulente Verfilmungen klassischer Literaturvorlagen. Nach einer beschwingten Komödie steht ihm vielleicht der Sinn nach einem nervenaufreibenden Horrorfilm. Auf einen klassischen Krimi folgt eine mäandernde Amour-fou-Geschichte.

Doch es gibt Gemeinsamkeiten: Die handwerkliche Genauigkeit. Die Präzision, mit der er auf die Gefühle der Zuschauern zielt. Die ironisch-abstrusen Kapriolen des Schicksals. Der einzigartige Polanski-Touch gespeist aus Angst, Entfremdung und Wahn. Und über allem ragt ein gemeinsames, ein weltumspannendes Thema: Der schier aussichtslose Überlebenskampf des Einzelnen in einer feindlichen, lebensbedrohlichen Gesellschaft.

Die Welt ist ein Dschungel, behauptet Polanski. Um darin zu überstehen, gibt es nur Angriff und Flucht.

Wen wundert es da, dass auch seine Vita wirkt, wie aus einem seiner Filme entnommen. Er, der Grenzgänger zwischen Ost und West, zwischen Europa und Amerika, ist überall zu Hause - und war zugleich immer ein wenig fremd und heimatlos. Und so manches Mal blieb ihm selbst nur die Flucht.

Am 18. August des Jahres 1933 kommt Polanski zur Welt. Nicht in Polen – in Paris. Der Vater ist ein polnischer Jude, seine Mutter hat einen russisch-katholisch-jüdischen Hintergrund. Polanski ist keine vier Jahre alt, als die Familie vor der in Frankreich aufkommenden Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus flüchtet – in die vermeintliche sichere Heimat, nach Polen zurück.

Eine fatale Entscheidung. Zwei Jahre später marschieren deutsche Soldaten in Polen ein und treiben die Juden zusammen. Einen Teil seiner Kindheit muss Polanski im Krakauer Ghetto zubringen, kann schließlich fliehen und bei Bauern unterschlüpfen. Immer wieder ist sein Leben in höchster Gefahr. Erst nach Kriegsende erfährt er vom Schicksal seiner Familie. Der Vater überlebt das KZ Mauthausen, die Mutter kommt in Auschwitz um.

Ein Zuhause fand Polanski im Kino. Eine Heimat wurde später die renommierte Filmhochschule in Łódź. Doch den vorherrschenden sozialistischen Realismus empfand Polanski mehr und mehr als Gefängnis. Seine Sehnsucht galt dem amerikanischen Kino, sein Traum hieß Hollywood.

Mit dem furiosen Das Messer im Wasser im Gepäck, seinem in Polen nicht unumstrittenen, scheinbar unpolitischen Abschlussfilm von der Filmhochschule, machte er sich auf den Weg nach Westen. Es waren nicht alleine die Aussichten, hier die Filme seiner Träume machen zu können. Es war auch der andere, der freiere Lebensstil, der ihn magisch anzog.

Später bezeichnete Polanski diese Phase, um die Mitte der 1960er, als die unbeschwerteste Zeit seines Lebens. Wahrscheinlich die einzige unbeschwerte überhaupt. Man erkannte rasch sein Ausnahmetalent, sein polnisches Erstlingswerk wurde mit einer Oscar-Nominierung geadelt, es folgten Regieangebote. In rascher Folge konnte Polanski drei Filme in England drehen: Ekel, Katelbach und Tanz der Vampire. Danach winkte schon Hollywood und Rosemaries Baby. Der Erfolg kam über ihn wie ein Rausch.

Polanski ging seinen eigenen Weg. So wie er sich in Polen den thematischen Vorgaben der Auseinandersetzung mit dem Zweitem Weltkrieg und der deutschen Besatzung verweigert hatte, so wurde er in Frankreich kein Anhänger der dominierenden Nouvelle Vague und später in den USA nicht Teil des New Hollywood. Er war und blieb ein sehr eigenwilliger Regisseur, oft auch sein eigener Drehbuchautor oder Coautor und immer wieder Darsteller in seinen Filmen – vom winzigen Gastauftritt bis zur Hauptrolle.

In diesen Jahren, als Filmemacher eher in Fachzeitschriften zu Hause waren als in den Klatschspalten, wurde Polanski zu einem der sichtbarsten Regisseure überhaupt. In Windeseile stieg der koboldhaft kleine Pole mit dem Riesenego zum Liebling der Boulevardpresse auf. Man sah Polanski beim Skilaufen in der Schweiz. Man sah ihn umringt von Schönheiten in Nachtklubs von Monte Carlo bis Paris. Anfang 1968 gingen die Fotos von der Märchenhochzeit mit Sharon Tate, der zauberhaften Hauptdarstellerin von Tanz der Vampire von London aus um die ganze Welt. Der Filmemacher als Superstar.

Über dem Glitter und dem Hype lauerten schon die Schatten. Zwei einschneidende, geradezu traumatische Ereignisse, beide auf amerikanischem Boden, machten den Berühmten und Bewunderten wieder zu einem Getriebenen. Polanski war wieder auf der Flucht.

August 1969, kurz vor seinem 36sten Geburtstag: Polanskis hochschwangere Frau Sharon Tate und ein paar Freunde werden in Los Angeles bestialisch ermordet. Die Täter sind Mitglieder einer satanischen Sekte. Sofort zieht die Sensationspresse eine verführerische Parallele. Ging es nicht auch kurz zuvor bei Rosemaries Baby, Polanskis triumphalem US-Debüt, um den Teufel und um eine Schwangerschaft? Polanski ist fassungslos. Die Opfer werden von der Presse zu Mitschuldigen gemacht. Voller Wut und Trauer flieht er nach Europa, zieht sich zurück.

Ein paar Jahre später wagte Polanski einen neuen Aufbruch nach Hollywood. Mit Chinatown drehte er den amerikanischsten seiner Filme – und setzt gegen alle Widerstände einen geradezu europäisch-existenzialistischen Schluss der Detektivgeschichte durch. Ein Glücksfall: Chinatown wurde zum stilbildenden Klassiker des Neo-Film-noir und läutete die Renaissance eines ganzen Genres ein. Doch erneut endete Polanskis Versuch, heimisch zu werden in Amerika, mit einer Flucht.

1977 wird Polanski in Los Angeles wegen Verführung einer Minderjährigen verhaftet. Anderthalb Monate verbringt er im Gefängnis, kommt wieder frei und setzt sich am Vorabend des Prozesses bei Nacht und Nebel nach Frankreich ab. Die französische Staatsbürgerschaft schützt ihn vor der Auslieferung.

Heute, dreißig Jahre später, hat ihm das Opfer von einst öffentlich verziehen, Doch die amerikanische Justiz bleibt unerbittlich. Amerikanischer Boden ist nach wie vor für Polanski tabu. Ihm droht die sofortige Verhaftung. So geriet die Stunde seines größten Triumphes zugleich zu einem Moment der Schmach: Für Der Pianist erhielt er 2003 den Regie-Oscar – konnte es aber nicht riskieren, ihn persönlich in Empfang zu nehmen.

Schon immer hatte sich Polanski mit Händen und Füßen gegen Interpretationen und Analysen seiner Werke gewehrt. „Wenn ich eine Botschaft hätte“, lautete ein geflügeltes Polanski-Wort jener frühen Jahre, „würde ich sie mit der Post schicken – aber nicht in einen Film packen.“ Nun, nach dem doppelten amerikanischen Trauma und der Hetzjagd der Boulevardpresse lagen die Nerven blank.

Wie sehr nach Jahrzehnten noch, konnte ich bei meiner eigenen Begegnung mit Polanski hautnah erfahren. Ein Kollege und ich hatten mit Polanski 1993 ein Interview für das Magazin Tempo verabredet. Der Anlass war die Deutschlandpremiere von Bitter Moon, eine Amour-fou-Geschichte um einen Mann in mittleren Jahren und seine deutliche jüngere Frau. Die zunehmende Tristesse ihres Liebeslebens versucht das Paar mit ausgefallenen Sexpraktiken zu bekämpfen.

Der Film war heftig umstritten, die Reaktionen in Frankreich und England gemischt. In der weiblichen Hauptrolle: Polanskis deutlich jüngere Ehefrau Emmanuelle Seigner.

Im Hamburger Atlantic-Hotel hatte sich ein ungeheurer Pulk Journalisten und Fernseh-Teams aufgebaut. Mitten darin Polanski und seine Ehefrau. Polanski wirkte angespannt, man sah ihm an, dass ihm das Ganze ungefähr soviel Spaß bereitete wie ein Besuch beim Zahnarzt.

Das anschließend in einer Hotelsuite stattfindende Interview wollte mein Kollege offenbar mit einem Paukenschlag eröffnen. Gegen jede Absprache knallte er Polanski ein paar wüste Klatschgeschichten um die Ohren, um dann nahtlos auf die beiden amerikanischen Reizthemen zu wechseln.

Selten habe ich bei einem Menschen einen derart schnellen Stimmungsumschwung erlebt wie bei Polanski: Von schlecht gelaunt auf totensauer in zwei Sekunden. Im Geiste sah ich uns beide Journalisten schon, die neugierigen Schnüffler, wie Jack Nicholson in Chinatown, für die nächsten Wochen mit einem Pflaster auf der Nase herumlaufen. Polanski ist zwar klein, aber durchtrainiert wie ein Kampfsportler.

Das Interview war nicht mehr zu retten. Polanski wurde immer einsilbiger, gab nur noch Standardantworten. Und es kam, wie es kommen musste: Unser Text wurde redaktionell zusammengestaucht, das noch mühsam rausgeleierte gemeinsame Foto mit Polanski verschwand mysteriöserweise aus der Kamera des Fotografen. Polanskis Erotical floppte gehörig, den Kollegen habe ich nie wiedergesehen – und die Zeitgeistpostille Tempo wurde bald darauf vom Zeitgeist überholt.

Zwar kann Polanski auch heute noch Interviews abrupt beenden oder – wie letztes Jahr auf dem Festival in Cannes – wütend aus einer gemeinsamen Pressekonferenz mit 30 Regiekollegen stapfen. Doch der Zorn der frühen Jahre scheint einer gewissen Altersweisheit Platz gemacht zu haben. Für Scharmützel mit der Presse ist Polanski mittlerweile die Zeit zu schade.

Der einst rastlose Wanderer ist angekommen, Roman der Schreckliche zum Familien-Róman gezähmt. Seit fast zwanzig Jahren mit Emmanuelle Seigner verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder, zählen für ihn die Familie und die Arbeit. Er, der ursprünglich immer Schauspieler werden wollte, ist inzwischen ein gefragter Darsteller auch für andere Regisseure.

Und er steckt immer noch voller Pläne für eigene Filme. Anfang nächsten Jahres sollen die Dreharbeiten zu Ghost nach einem Bestseller des Briten Robert Harris beginnen. Pierce Brosnan und Ewan McGregor spielen die Hauptrollen in dieser bitterbösen Abrechnung mit der Ära Tony Blair.

Vor ein paar Jahren erst, mit fast schon Siebzig, hat sich Polanski dann doch noch an eine filmische Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und den Schrecken seiner Kindheit gewagt. Sein eigenes Leben wollte er nie verfilmen. Dann aber stieß er auf die Erinnerungen des jüdischen polnischen Pianisten Władysław Szpilman über die Zeit von 1939 bis 1945. Szpilmans Leidensweg, sein Überlebenskampf unter deutscher Besatzung, Bombenkrieg und Ghetto darf man getrost auch als Schlüssel zu Polanskis Biografie verstehen. Der Pianist wurde Polanskis persönlichster Film und einer seiner größten Erfolge und weltweit mit Preisen und Ehrungen geradezu überhäuft.

Auch Polanskis bislang letztes Werk Oliver Twist bedeutete ihm natürlich mehr als nur eine besonders gefühlvolle, besonders komische und gelegentlich drastische Verfilmung des Charles-Dickens-Klassikers. Die schicksalhaften Abenteuer des Waisenjungen im England des frühen 19. Jahrhunderts erinnern zu deutlich an einen anderen kleinen Jungen - in Polen rund hundert Jahre später.

„Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt“, räumte Polanski mit seltener Großmütigkeit unlängst in einem Interview dazu ein, „sich ohne Schuhe blutige Füße zu laufen oder eine vertrocknete Brotrinde zu essen, die eigentlich für ein Tier bestimmt war. Vor allem aber, wie es ist, Tag für Tag seine Eltern zu vermissen.“

Zum Schluss bleibt mir noch, Polanski, aber auch uns weitere faszinierende Polanski-Filme zu wünschen - und Ihnen jetzt viel Vergnügen mit Chinatown. Und achten Sie in dem Film auf den gefährlichen kleinen Mann mit dem weißen Hut.


Dazu Interview mit Kulturradio rbb

Video über Polanski und Chinatown

Sonntag, 29. Juni 2008

"Die letzte Verführung" in: Filmgenres. Film noir


Die letzte Verführung

The Last Seduction
USA 1994    f 110 min 

R: John Dahl
B: Steve Barancik
K: Jeffrey Jur
M: Joseph Vitarelli, Charlie Terrell
D: Linda Fiorentino (Bridget Gregory), Bill Pullman (Clay Gregory), Peter Berg (Mike Swale), J. T. Walsh (Frank Griffith)

Verführerisch ist sie, gerissen und ohne Skrupel. Bridget ist eine Frau, die bekommt, was sie will. Mit Zuckerbrot und Peitsche treibt sie ihre Truppe von Telefonverkäufern zu Höchstleistungen – während zeitgleich Ehemann Clay einen brisanten Drogendeal durchzieht. Nach ihrem Plan, versteht sich: einen Koffer pharmazeutisches Kokain gegen 700.000 Dollar in gebrauchten Scheinen. Als Clay, ein verkrachter Mediziner, mit der Beute nach Hause kommt, unterläuft ihm der Fehler seines Lebens. Er verpasst seiner Frau, die ihn milde kritisiert, eine Ohrfeige – und bereut sofort. „Du darfst mich auch schlagen“, bietet er demütig an. „Wohin du willst, und so fest du willst.“
Von diesem Schlag zurück – der härter und gemeiner ausfällt, als Clay oder jeder andere sich das vorstellen kann – erzählt der Film.


bitte weiterlesen in: "Filmgenres. Film noir". Hg. Norbert Grob. Stuttgart 2008: Reclam. S. 341-345


Buch bei Amazon

Mittwoch, 13. April 2005

Film noir und Neo-Noir (5. Aufl.)


VORBEMERKUNG

In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends erweist sich der Neo-Noir als lebendiger und für das amerikanische Kino wichtiger denn je. Inzwischen ist er gut vierzig Jahre alt; damit hat er die Zeitspanne des Film noir, dessen Erbe und Nachfolge er in den 1960ern antrat, mehr als verdoppelt, und auch den klassischen Kanon von knapp zweihundert Filmen hat er längst übertroffen. Und noch immer kein Ende in Sicht. Für völlig unangreifbar sollte man den Neo-Noir, dessen verschlungene Entwicklung der zweite Teil dieses Buches nachzuzeichnen versucht, dennoch nicht halten. Gefahren liegen in der exzessiven Abnutzung seines Stils, der von allen Seiten kannibalisiert wird, in der Erosion seiner Grenzen zu anderen Genres und in der Inflation des Begriffs; ein bisschen bedroht ist er auch durch ein paar ungeduldige Zeitgenossen, die schon auf einen „Post-Neo-Noir" oder „Neo-Neo-Noir" lauern. Ganz so weit ist es allerdings noch nicht, und bekanntlich leben Totgesagte länger.
In den fünf Jahren seit der vorigen Ausgabe dieses Bandes hat sich die Bezeichnung „Neo-Noir" in den USA und, etwas zögerlicher, auch in Deutschland durchgesetzt. Andere terminologische Versuche gingen weniger glücklich aus; sie erwiesen sich als zu umständlich oder zu nichtssagend. Kritiker, Filmtheoretiker und – das ist entscheidend – die Zuschauer haben in diesem knappen Begriff offenbar ihre Seh- und Höreindrücke, ihr Gespür für das Neue und ihr Wissen um die Tradition als angemessen komprimiert empfunden. Er ist einigermaßen assoziativ und einprägsam – und zugleich unscharf genug, um auch Weiterentwicklungen integrieren zu können. Schließlich, wie sollte es anders sein, haben sich auch die Macher dieser Filme auf dieses Markenzeichen verständigt.
Das Verblüffende ist ohnehin nicht das noch zunehmende Interesse am Neo-Noir, sondern das nicht nachlassende am Film noir. Aus der Begeisterung für diese schwarzweißen Klassiker von vor mehr als einem halben Jahrhundert erwächst zudem eine klare Bewusstheit dafür, dass aktuelle Werke wie MEMENTO, THE MAN WHO WASN'T THERE, COLLATERAL und selbst die MATRIX-Trilogie irgendwas (eine ganze Menge sogar) damit zu tun haben; dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Filmen von heute und dem, was einst eine Schar von Migranten aus dem alten Europa in die Neue Welt schleppte. Auch aus diesem Grund wird nicht nur über den Neo-Noir, sondern ebenso über den Film noir noch immer viel publiziert. Nach wie vor ist er ein wunderbar obskures Objekt der Neugierde für allerlei akademischen oder cineastischen Diskurs. Umso auffälliger wirkt diese lebhafte Auseinandersetzung im Vergleich etwa zu der kargen Beschäftigung mit der Nouvelle Vague oder dem Jungen (später: Neuen) Deutschen Film, obwohl diese um Jahrzehnte jünger sind.
Der Zugriff auf die Films noirs selbst ist dabei heute einfacher als je zuvor. In immer neuen DVD-Editionen erscheinen die wichtigsten der klassischen Filme, zum Teil in sorgfältig rekonstruierten Fassungen. Beispielsweise Edgar Ulmers DETOUR von 1945, dessen 35-mm-Originalnegativ aufgespürt und überspielt wurde und der seit seiner Uraufführung wohl nicht mehr so frisch zu sehen und zu hören war. Alleine von der Menge des Angebots her ist ein Eintauchen in den Film noir heute leichter als selbst zu den Zeiten, da die Filme in den USA ihre Kinopremieren hatten oder, mit Verzögerung, nach Frankreich und in andere europäische Länder expediert wurden.
Natürlich kann man die Neo-Noirs des 21. Jahrhunderts auch ohne eine Ahnung von Film noir genießen oder „verstehen". Wenn Brian De Palma seinen FEMME FATALE mit einer Szene aus einem offensichtlich älteren Schwarzweißfilm beginnt, in der eine Frau auf ihren Liebhaber schießt, oder wenn David Lynch in MULHOLLAND DRIVE eine Frau, die ihren Namen nicht mehr weiß, sich den einer Schauspielerin auf einem Filmplakat ausborgen lässt – so muss man nicht wissen, wieso dieser Ausschnitt, wieso dieses Plakat und dieser Name. Aber wenn man's weiß, wenn man die Darstellerinnen und den Darsteller kennt und den Film zu dieser Szene und den zu diesem Plakat und überhaupt all die anderen dieses Stils und aus dieser Zeit dazu: dann wird, mit ziemlicher Sicherheit, das Vergnügen beim Anschauen des Lynch oder des De Palma größer sein. Und ob einen die „verdrehte" Erzählweise von MEMENTO nun begeistert, langweilt oder lediglich verwirrt: es kann nicht schaden, den Vergleich mit den Rückblenden und Off-Erzählungen des Film noir ziehen zu können.
Solange also Filmemacher von heute sich am Film noir abarbeiten, sich bewusst oder unvermeidbar in seine Tradition stellen, und solange Zuschauer Freude daran haben, die Spuren des Alten im Neuen zu entdecken, erscheint es auch sinnvoll. Film noir und Neo-Noir in einem Buch zu vereinen und eine Brücke zwischen damals und heute zu schlagen. Und gelegentlich noch einen Film des Jahres 2005 als möglichen Reflex auf einen anderen von 1950 zu begreifen.

Gewidmet ist das Buch dem Andenken an den wunderbaren (Kriminal)Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Ulf Miehe, der, im Sommer 1989, viel zu früh starb. Mit Dank für seinen behutsamen, kritischen Rat.


Paul Werner
im April 2005

Weiterführende Links und Infos zu Film noir, Neo-Noir und zu diesem Buch auf: neo-noir.de

Dienstag, 29. August 1995

"The Big Sleep (Al borde del abismo)" in: Cien Años de Cine


HÉROES FRACASADOS EN EL CINE NEGRO: THE BIG SLEEP[AL BORDE DEL ABISMO] (1946)

PAUL WERNER


Entre las dos y las tres de la mañana. En el muelle del Lido el infierno se ha desatado. Las luces se reflejan en el asfalto aún mojado por la lluvia. Un par de curiosos despistados, la policía desarrolla febril actividad. Una grúa, resoplando fuertemente, extrae un abollado Packard del agua. Desde un bote unos hombres miran la acción. En una camilla yace un cadáver semicubierto, que acaba de ser sacado del agua. Un hombre de aspecto duro y pequeño, con sombrero e impermeable, camina por el lugar, junto a un impleado policial: Philip Marlowe, detective privado. La identitad del muerto ya ésta comprobada: se trata de Owen Taylor, el chofer de los Sternwood. También se conoce la causa de su muerte: el hombre simplemente se ha desnucado. Puede ser un accidente el acelerador de mano está medio salido.
Cuando el director Howard Hawks filmó esta escena de The big sleep, hacia fines de 1940, en Burbank, territorio de los hermanos Warner, surgió la pregunta acerca del culpable de la muerte del hombre. Hawks dio un nombre; Humphrey Bogart, que representaba el detective privado, apostó por otro. Durante algún tiempo se discutió la posibilidad de que Owen Taylor se hubiera suicidado. Sólo William Faulkner, coautor del guión, se negó a participar en tales especulaciones.
Para acabar con las conjeturas, Hawks decidió mandar un telegrama a Raymond Chandler (sobre cuyo costo de 70 centavos se burlaría más tarde el jefe del estudio, Jack L. Warner). Como autor de la novela que iba a ser filmada, él debía tener la respuesta. Chandler hojeó un poco en su libro y luego dijo: "Maldición, yo mismo no lo sé."


bitte weiterlesen in Cien años de cine. Vol. 3: 1945-1960. (Comp. Werner Faulstich y Helmut Korte - trad. de Celia Bulit). México/Madrid 1995: siglo ventiuno editores. pp 65-89

Sonntag, 4. September 1994

Alain Delon


EINSAMER WOLF
Nach der Gérard-Depardieu-Reihe zeigt das ZDF ab Samstag sechs Filme eines anderen französischen Superstars - Alain Delon. Den Auftakt macht »Flic Story«

Niemand tötete so elegant, und beim Sterben war er immer der Schönste. Geheimnisvoll der Blick seiner blauen Augen, aber auch kalt. Und oft wirkte sein gutgeschnittenes Gesicht eher wie eine Fassade denn als Spiegel seiner Seele. Er selbst fand Anspielungen auf sein Aussehen manchmal »nur zum Kotzen«.
Vielleicht hätte Alain Delon das Zeug zu einem Schauspieler gehabt, so aber wurde er ein Star. Die Wandlungsfähigkeit, die sich in frühen Rollen bei Luchino Visconti und Michelangelo Antonioni und später bei Joseph Losey noch erkennen ließ, verschwand bald hinter einer rigorosen Selbstinszenierung und Selbststilisierung. Zu sehr gefiel sich Delon als Narziß mit Killergehabe, als melancholischer Einzelgänger, als einsamer Wolf. Er schuf aus sich einen Kinomythos - und baute sich zugleich ein Gefängnis: Die gelegentlichen Ausbruchsversuche aus dem Gangster-Klischee wurden kaum honoriert.
Längst haben Delon, 58, dem das ZDF nun eine sechsteilige Reihe widmet, variationsreiche Vollblutschauspieler wie Gérard Depardieu den Rang abgelaufen. Als Duftwasserproduzent, Rennstallbesitzer und Kunstsammler ist Delon heute gefragter als an der Kinokasse.
»Sei schön und halt den Mund« hieß 1958 sein zweiter Film, bei dem auch Erzrivale Jean-Paul Belmondo bereits zu entdecken war. Den Filmtitel schien sich der junge Delon, der zuvor aus der stiefväterlichen Metzgerei zur Marine und in den Indochina-Krieg geflüchtet war, fortan zu eigen zu machen. Nahezu stumm war er vor allem in dem Film, mit dem er 1967 zu Recht berühmt wurde, »Der eiskalte Engel«. Regisseur Jean-Pierre Melville, der Chefstylist des französischen Kriminalfilms, trieb die Ikonographie seines Idealdarstellers zur Vollendung: minimale Mimik, rituell-sparsame Gesten, ein Blick von unergründlicher Traurigkeit. Einsam wie ein Tiger durchstreift Delon als verratener Berufskiller das nächtliche Paris.
In derartigen Standardrollen präsentiert die ZDF-Reihe nun an fünf aufeinanderfolgenden späten Samstagabenden und dazu noch einmal im »Montagskino« den französischen Kult-Mimen vornehmlich: entweder auf der Flucht (vor Gangstern, vor Polizisten) oder auf der Jagd (nach Verbrechern). Ob als Ganove oder Polizist - die geradezu existentialistische Verzweiflung des Einzelgängers ist jedesmal die gleiche, die Vergeblichkeit allen Tuns wird in jeder Bewegung bewußt.
Wieder war es Melville, der Delon 1972 in »Der Chef« (zu sehen am 22.1.) zum ersten Mal einen Bullen spielen ließ, zerrissen zwischen Pflichtgefühl und seiner Freundschaft zu einem Ganoven (Richard Crenna), auf den sich alle Spuren konzentrieren.
Gerade dieses Motiv der Freundschaft machte die Rolle für Delon attraktiv: »Mehr als an die Liebe glaube ich an die Freundschaft«, erklärte er einmal. Und: »In der Freundschaft gibt es keine Enttäuschungen, da gibt es nur den Verrat.«
Drei Jahre später wagte Delon einen weiteren Ausflug ins Bullenfach: »Flic Story«, mit dem das ZDF seine Reihe am Samstag um 1.00 Uhr beginnt. Die stimmungsvolle, im Paris der späten Vierziger angesiedelte Suche nach einem Psycho-Killer fiel dennoch vergleichsweise konventionell aus.
Vom selben Regisseur - Jacques Deray, mit dem Delon häufig arbeitete - stammt auch »Killer stellen sich nicht vor« aus dem Jahre 1980 (24.1.). Delon gerät hier als Berufsspieler auf die Abschußliste einer Verbrecherbande, ein Schicksal, das ihn bereits 1963 in dem Film »Wie Raubkatzen« (15.1.) ereilte, nachdem er die Frau eines Gangsterbosses verführt hatte. Seine Flucht nach Monte Carlo bringt ihn vom Regen in die Traufe.
Nach dem schwachen »Wie ein Bumerang« (29.1.) - ein Unternehmer (Delon) wird von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt - bringt zum Abschluß der Reihe ein Klassiker am 5. Februar beinahe sämtliche Motive noch einmal unter einen Hut: den großen Coup, den Ehrenkodex der Mafia, den Delon durch eine leichtsinnige Liebschaft verletzt, die Freundschaft der Gangster, den Verrat. Vor allem aber führte »Der Clan der Sizilianer«, 1969 von Henri Verneuil inszeniert, gleich drei Ikonen des französischen Gangsterfilms zusammen: neben Delon noch Lino Ventura und einen hinreißend kauzigen Jean Gabin.
PAUL WERNER

Stern 23, 1994

Donnerstag, 12. April 1990

Tagebuch einer Freundschaft: Wim Wenders - Yohji Yamamoto


EIN DEUTSCHER REGISSEUR, SEIN JAPANISCHER FREUND UND PARIS, TOKIO 

Der neue Film von Wim Wenders ist mehr als ein Portrait des Modemachers Yohji Yamamoto: ein vielschichtiger kinematographischer Essay über die Arbeit von Künstlern, über das Leben in Städten, über Kino und Video

Von Paul Werner

in Zeit magazin Nr. 16 13. April 1990

Mittwoch, 17. Januar 1990

Jörg Fauser Edition


Lebenswerk eines Lumpensammlers
 
In memoriam JÖRG FAUSER: Eine achtbändige Edition faßt Prosa und Poesie des verstorbenen Literatur-Desperados zusammen

Seine Helden waren Überlebenskünstler und Glücksritter aller Art. Immer wieder kreisten seine Prosa und seine Gedichte um Säufer, Fixer und kleine Dealer, um Nutten, Penner, Schwule und Stricher, kurz: um die Gestrandeten dieser Gesellschaft. Jörg Fauser, Krimiautor, Poet und Journalist, sah sich auch selbst gern als Underdog. Im deutschen Literaturbetrieb war er ein Außenseiter. Und als er 1987 mit 43 Jahren starb, lag es auf der Hand, daß die Nachrufer eine Parallele zwischen seinen Geschichten und den Umständen seines Todes zogen: Nach einer ausgedehnten Geburtstagsfeier war der Schriftsteller im Morgengrauen zu Fuß über die Autobahn gestolpert - und von einem Lastwagen überrollt worden. So hätte auch einer seiner Romane enden - oder beginnen - können. Seine literarische Hinterlassenschaft ist beachtlich: vier Romane, ein Band Gedichte, zahlreiche Erzählungen und eine Fülle journalistischer Arbeiten, die nun in einer schönen achtbändigen Edition versammelt sind.
Beim Lesen der mehr als zweieinhalbtausend Seiten wird deutlich, wie schmal der Grat ist, auf dem sich Fauser zwischen Klischee und genauer Wirklichkeitsbeschreibung bewegt. Wenn Fauser gut ist, dann sehr gut. Wenn er schlecht ist, dann gleich miserabel. Der Autor schrieb die wunderbarste Schnoddersprache, die man in einem deutschen Krimi lesen kann. Und seine lakonischen und treffenden Charakterisierungen stehen denen seiner Vorbilder Chandler, Hammett und Spillane in nichts nach („ein Mann mit Seehundsbart und den Augen eines Bassets, der im Tierheim groß geworden ist“). So leicht er auch oft dahinerzählt, manchmal bleibt Fauser in einem Sumpf aus Platitüden stecken. Zum Beispiel dann, wenn er zum hundertsten Male den Glorienschein des heiligen Trinkers aufpoliert oder die ewige Nutte mit Herz beschwört. Doch immer wenn er seine persönlichen Erfahrungen wiedergibt, dann sind seine Arbeiten - ob Fiktion oder Reportage - mitreißend und spannend.
Dies gilt unbedingt für Fausers Romandebüt „Der Schneemann“, mit dem er 1981 bekannt wurde. Der Held, ein abgetakelter Geschäftemacher, gerät auf Malta an ein paar Pfund Kokain und versucht, die zu verscherbeln. Von München über Frankfurt und Köln bis nach Amsterdam führt ihn die Irrfahrt, und stets besticht Fauser durch die genaue Kenntnis der Orte, Personen und Milieus.
Was Fauser damals an Schreibund Lebenserfahrung bereits hinter sich hat, läßt sich sehr schön in seinem erstmals 1984 erschienenen autobiographischen Roman „Rohstoff“ nachlesen. Es ist die unsentimentale Beschreibung seiner Selbstfindungsversuche in den sechziger und siebziger Jahren - und nebenbei ein demaskierendes Porträt der Berliner und Frankfurter Studentenbewegung. Im Vergleich zu seiner Beobachtungsgabe wirkt Fausers Erfindungsvermögen unterentwickelt. Der schlecht konstruierte Roman „Das Schlangenmaul“ (1985) über einen Illustriertenschreiber, der in Berlin Privatdetektiv spielt, ist blasse Kolportage. Das Sujet wurde auch nicht besser, als Fauser es nach München transportierte und für den Fortsetzungsroman „Kant“ noch einmal aufnahm.
Da sind seine ruppigen Gedichte aus den siebziger Jahren allemal besser („Der Poet ist ein Lumpensammler, / er kommt mit den Abfällen aus / wie die Ratte und der / Schakal“), auch wenn sie in ihrer harten Männerpose oft zu deutlich die Lektüre von Bukowski verraten. Vor allem zu bewundern sind Fausers Reportagen und literarische Porträts. Auf sie trifft zu, was der Autor seinem Doppelgänger in „Rohstoff“ in den Mund legte: „Da hast du einen Vorsprung, wenn du bei dem bleibst, was du gesehen hast.“ (Jörg Fauser Edition, Rogner & Bernhard bei Zweitausendundeins, 8 Bände plus Begleitheft, 100 Mark)

PAUL WERNER

in Viva Heft 3, 1990